
Wohnraum schaffen statt Schnelligkeit um jeden Preis
Der geplante Paragraph 246e BauGB – im politischen Diskurs als “Bau-Turbo” bekannt – verspricht Beschleunigung im Wohnungsbau. Doch ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, angeführt von der Bundesarchitektenkammer (BAK), warnt vor erheblichen Risiken: Einseitige Fokussierung auf Quantität und Schnelligkeit gefährde soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Partizipation.
Die Wohnungskrise und die politische Antwort
Deutschlands Wohnungsmarkt steht unter enormem Druck. Insbesondere in urbanen Ballungsräumen fehlen bezahlbare Wohnungen in großem Umfang. Die Bundesregierung reagierte mit dem geplanten “Bau-Turbo” – einer Gesetzesnovelle, die Genehmigungsverfahren vereinfachen und Planungsprozesse verkürzen soll. Bundesministerin Verena Hubertz (SPD) sieht in der beschleunigten Bauweise ein wirksames Instrument gegen die Wohnungsnot.
Doch das Vorhaben ist komplex: Es kollidiert mit etablierten Planungsprinzipien, Beteiligungsrechten und städtebaulichen Qualitätsstandards. Architekten und Planerinnen warnen vor ungewollten Konsequenzen, die Jahrzehnte nachwirken könnten.
Die Positionen der Bundesarchitektenkammer
Die BAK unter ihrer Präsidentin Andrea Gebhard hat sich klar positioniert: Zwar erkennt die Kammer die Wohnungskrise an, lehnt aber die aktuelle Ausgestaltung des Bau-Turbos ab. “Wir haben die Wohnungskrise erkannt”, betont Gebhard. “Die Kammern sehen viele Möglichkeiten für Lösungen und Verbesserungen.” Allerdings habe die jetzige Formulierung des Paragraphen 246e BauGB erhebliche Schwachstellen.
Die Kernkritik der BAK richtet sich gegen die einseitige Fokussierung auf Tempo ohne Rücksicht auf strukturelle Qualitätsmerkmale. “Schneller Wohnungsbau darf nicht heißen, dass wir soziale, ökologische und baukulturelle Standards über Bord werfen”, macht Gebhard deutlich. Fläche sei eine endliche Ressource – wer sie verbrauche, schädige Landwirtschaft, Natur und mittel- bis langfristig die Zukunftsfähigkeit des Landes.
Innenentwicklung vor Zersiedelung
Ein Kernpunkt der Kritik betrifft die fehlende Priorisierung von Innenentwicklung. Der Bau-Turbo könnte Kommunen dazu verleiten, auf Neuerschließung statt auf intelligente Weiterentwicklung bestehender Siedlungsstrukturen zu setzen. Das widerspricht modernen Planungsprinzipien und Klimaschutzzielen.
“Innenentwicklung vor Zersiedelung” – dieser Maxime folgend fordert das von der BAK angeführte Bündnis, dass der Bau-Turbo ausschließlich in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt Anwendung finden darf und sich auf Innenentwicklung beschränken muss. Eine Anwendung auf neue Siedlungsflächen lehnen die Verbände ab.
Soziale Bindung statt Marktlogik
Ein weiterer kritischer Punkt: verbindliche Quoten für dauerhaft sozial gebundenen Wohnraum. Der aktuelle Entwurf enthält zwar Formulierungen zum Thema Preisgünstigkeit, konkrete und verlässliche Verpflichtungen fehlen jedoch. Das schafft Unsicherheit, ob die geplanten Bauten tatsächlich der Bevölkerungsschicht zugute kommen, die Wohnungen am dringendsten benötigt.
Das Bündnis fordert daher mindestens 50,1 Prozent dauerhaft bezahlbar zu vermietende Wohnungen bei Neubauten ab sechs Einheiten. Damit sollen Flächen effizienter genutzt und soziale Wirkung gesichert werden – ein regulatorischer Rahmen, der den Markt zwar lenkt, aber nicht in sein Wesen eingreift.
Bürgerbeteiligung und demokratische Legitimation
Der Bau-Turbo sieht eine drastische Verkürzung der Beteiligungsfristen vor – auf zwei Monate für Öffentlichkeitsbeteiligungen und Stellungnahmen. Die Kritiker warnen: Dies gefährde die Qualität von Planungsprozessen erheblich und untermine demokratische Partizipation.
Qualitätsvolle Planung benötigt Zeit für Abstimmung, kritische Auseinandersetzung mit Alternativen und die Einbeziehung lokaler Expertise. Bürgerinnen und Bürger, Verbände und Fachleute brauchen realistische Zeitfenster, um sich informieren, zu evaluieren und Stellungnahmen vorzubereiten. Eine zu starke Verkürzung führe zu Frustration und könne am Ende die Akzeptanz von Projekten gefährden.
Kommunale Leistungsfähigkeit und finanzielle Ausstattung
Ein häufig übersehener Aspekt: Die Umsetzung liegt zu großen Teilen bei den Kommunen. Viele Gemeinden und Städte kämpfen bereits mit Personalengpässen, komplexen Abstimmungsprozessen und finanziellen Unsicherheiten. Der Bau-Turbo könnte diese Strukturschwächen eher verschärfen als lösen. Vor allem kleinere und strukturell benachteiligte Kommunen könnten überfordert werden, wenn sie ohne zusätzliche Ressourcen schnellere Verfahren umsetzen sollen.
Gebäudetyp E als Alternative
Die Bundesarchitektenkammer weist auf innovative Ansätze hin, die weniger problematisch sind als der Bau-Turbo. Das Konzept des “Gebäudetyp E” – ein vereinfachter Typenbau – könnte Beschleunigung ohne Qualitätsverlust ermöglichen. Standardisierte Entwürfe reduzieren Planungsaufwand, beschleunigen Genehmigungen und wahren gleichzeitig baukulturelle Standards. Dies wäre ein konstruktiver Mittelweg zwischen Status quo und radikaler Deregulierung.
Die berufspolitische Dimension
Aus berufspolitischer Perspektive offenbart sich ein grundlegendes Spannungsfeld: Der Bau-Turbo könnte die klassische Rolle von Architektinnen und Architekten schwächen. Wenn Genehmigungen vereinfacht und Planungsprozesse verkürzt werden, verringert sich die Nachfrage nach qualitativer Planung. Dies könnte zu Druck auf Honorare und Beschäftigungschancen führen.
Zugleich wächst die Verantwortung der Architektenschaft: Als Anwältin und Anwalt von Qualität, Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung muss die Berufsgruppe intensiver in politische Diskurse eingreifen. Die BAK-Kampagne zeigt, dass dies geschieht – durch fundierte Kritik, alternative Lösungsvorschläge und Verbündung mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Ausblick: Eine zweite BauGB-Novelle?
Das Bündnis fordert nicht nur Nachbesserungen am Bau-Turbo, sondern auch eine zweite, umfassende BauGB-Novelle noch in der laufenden Legislaturperiode. Diese solle verbindlich soziale, ökologische und langfristige Stadtentwicklung festschreiben. Dies wäre ein regulatorischer Rahmen, der über Tempo-Maßnahmen hinaus strukturelle Antworten auf die Wohnungskrise bietet.
Fazit
Der “Bau-Turbo” ist ein politisches Signal – mehr nicht. Er adressiert die Wohnungskrise, ohne ihre strukturellen Ursachen zu beheben. Während Geschwindigkeit in manchen Bereichen hilfreich sein kann, droht sie hier, Qualität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu gefährden. Die Bundesarchitektenkammer und ihr Bündnis zeigen einen Weg auf, wie Beschleunigung verantwortungsvoll gestaltet werden könnte – durch Fokus auf Innenentwicklung, verbindliche soziale Quoten, ausreichende Beteiligungszeit und Stärkung der Kommunen. Architektur ist nicht nur ein technisches oder wirtschaftliches Anliegen – sie ist gesellschaftlicher Auftrag. Wer baut, gestaltet Zukunft. Und Zukunft verlangt Sorgfalt.

Wie Österreich seine Denkmaler digital rettet – und real gefährdet

Millionen-Einkaufszentrum statt Park! Bozen ärgert sich über Chipperfields Koloss









