Warum neue Straßen nicht immer die Lösung sind
Der Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß widmet sich in seinem neuesten Werk der Dominanz des Autos und ihren Auswirkungen auf Stadt und Land. „Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege“ feierte Premiere im Wiener Gartenbaukino. Auf 373 Minuten und in 51 Kapiteln untersucht Seiß, warum das Auto trotz zahlreicher Kritik und alternativer Verkehrskonzepte weiterhin das Verkehrsmittel der Wahl bleibt.
In gewohnt lakonischem Tonfall und mit scharfem Blick für das Wesentliche zeigt der Film, wie sehr der motorisierte Individualverkehr nach wie vor unsere Städte und Landschaften prägt. Die visuelle Reise durch Österreich, Deutschland und die Schweiz entlarvt den Mythos, dass mehr Straßen die Verkehrsprobleme lösen könnten. „One more lane will fix it“ – ein längst widerlegtes Motto, das dennoch unaufhaltsam neue Asphaltbänder durch die Landschaft zieht.
In Deutschland und Österreich scheint sich seit den 1960er Jahren wenig verändert zu haben. Während in Berlin nach der Senatswahl 2023 betont wurde, dass kein Parkplatz geopfert werde, gibt die FDP absurde Argumente gegen ein Tempolimit von sich. Auch Österreich bleibt seinem Auto treu, wie Bundeskanzler Karl Nehammer bekräftigte: „Österreich ist ein Autoland.“ Seiß nimmt diese Haltung aufs Korn und zeigt auf, dass es nicht an Naturgesetzen, sondern an politischen Entscheidungen liegt, ob das Auto oder nachhaltigere Verkehrsmittel dominieren.
Ein Blick über die Grenze in die Schweiz zeigt Alternativen auf. Dort synchronisieren Postbusse und Bahnen selbst in abgelegenen Dörfern ihre Fahrpläne, sodass man in kürzester Zeit in die Großstadt gelangt. Auch der Warentransport per Bahn ist dort etabliert. „Es sind keine ominösen Mächte, die diese Verhältnisse schaffen, sondern immer Entscheidungen der Politik“, betont Seiß.
Seiß beleuchtet auch die negativen Folgen des Straßenbaus: Den Flächenfraß-Turbo. Neue Straßen fördern nicht nur den Verkehr, sondern auch die Versiegelung von Flächen und die Ausbreitung von Gewerbegebieten, wie am Beispiel der Lobau-Autobahn und der Ostumfahrung Wiener Neustadt deutlich wird. Hier entsteht neuer Gewerbeflächen auf wertvollem Ackerboden, was den ohnehin hohen Flächenverbrauch weiter steigert.
Doch es gibt Lichtblicke: Verkehrsberuhigung in Lienz, die Schiffsverbindung in Ottensheim und die Fahrradpolitik in Bremen. „Es geht schlicht darum, was wir als Lebensqualität definieren“, sagt Seiß. Mobilität spielt eine zentrale Rolle in dieser Definition.
Seißs Entscheidung, den Film vom bayerischen Kabarettisten Christian Springer kommentieren zu lassen, verleiht dem Film eine charmante und gleichzeitig kritische Note. Mit rustikalem Sarkasmus führt Springer durch die automobilen Welten, was für Seiß eine Reminiszenz an seine Jugend darstellt.
Doch der süffisante Tonfall des Films könnte nach zwei Stunden eintönig werden. „Mehr Fakten, Daten und andere Stimmen hätten die Argumente objektiv untermauern können“, räumt Seiß ein. Dennoch bleibt die Stoßrichtung klar: Für eine 180-Grad-Wende in der Verkehrspolitik braucht es auch eine gehörige Portion Polemik.
„Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege“ ist nicht nur ein Film, sondern ein Appell an die Vernunft und die Politik. Die Dominanz des Autos zu hinterfragen und Alternativen zu fördern, ist keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit für die Zukunft unserer Städte und Landschaften. mehr…