
Überseequartier Hamburg: Ein Debakel mit Ansage
Chronik einer angekündigten Katastrophe
Die Hansestadt hatte sich einst vorgenommen, mit dem größten innerstädtischen Stadtentwicklungsprojekt Europas neue Maßstäbe zu setzen. Ursprünglich sollte das Westfield Hamburg-Überseequartier bereits im vergangenen Jahr eröffnen. Mehrfach wurde das Opening jedoch verschoben. Nun steht fest: Die Eröffnung wird auf das späte erste Quartal 2025 verschoben – was den dritten Aufschub in Folge markiert.
Ein Wasserschaden im technischen Bereich des Untergeschosses hat die feierliche Einweihung, zu der auch Popstar Rita Ora erwartet wurde, verhindert, berichteten Medien bereits im April 2024. Die damalige Verschiebung auf August, später auf Oktober, erwies sich als Illusion. Die Verzögerung der ursprünglich für den 17. Oktober 2024 angekündigten Eröffnung schafft zusätzliche Zeit für den Abschluss der Inbetriebnahmephase des Projekts. Dies betrifft hauptsächlich Aspekte der Gebäudetechnik wie Brandschutz- und sicherheitstechnische Anlagen sowie andere Systeme der technischen Gebäudeausrüstung.
Kostenexplosion als Managementdesaster
Die finanzielle Bilanz des Projekts liest sich wie ein Lehrbuch für misslungenes Projektmanagement. Das börsennotierte internationale Immobilien- und Projektentwicklungs- und Centermanagement-Unternehmen URW muss laut URW zusätzlich Kosten hinnehmen: „Die verspätete Eröffnung des Einzelhandelsbereichs wird zu zusätzlichen Kosten in Höhe von schätzungsweise 100 Millionen Euro führen, die im Wesentlichen im Zusammenhang mit der verlängerten Bauzeit und den Kompensationen für die Mietpartner entstehen.“ Damit beträgt das Gesamtinvestitionsvolumen jetzt offiziell rund 2,26 Milliarden Euro.
Was als Milliardenprojekt startete, entwickelte sich zu einer Kostenspirale ohnegleichen. Eine Kostensteigerung um über 120 Prozent. Ein handfestes Managementdesaster. Zum Vergleich: Die Hamburger Elbphilharmonie, einst Synonym für deutsche Großprojekt-Pannen, kostete „nur“ 789 Millionen Euro – bei einer Kostensteigerung von ursprünglich 77 Millionen.
Forensische Spurensuche
Der französische Immobilienriese Unibail-Rodamco-Westfield reagierte auf das Debakel mit drastischen Maßnahmen. Ferner läuft seit Juli 2024 eine „umfassende, unabhängige Untersuchung“ der URW-Finanzen „durch Accuracy (Experten für forensische Buchhaltung) und White & Case (Rechtsberatung)“. URW weiter zur Business-Untersuchung durch Dritte: „Sie hat sich bisher darauf konzentriert, die Hauptursachen für die erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen zu identifizieren.“
Die interne Aufarbeitung zeigt das Ausmaß der Krise: URW hat das Management sowie die Leitung des Projekts durch die Ernennung eines neuen Head of Construction weiter gestärkt und das Team mit umfangreicher zusätzlicher Expertise in den Bereichen der technischen Gebäudeausrüstung und Inbetriebnahme ergänzt. Wenn internationale Konzerne forensische Buchhalter einschalten und das gesamte Projektmanagement austauschen, spricht das eine deutliche Sprache.
Menschliche Tragödie am Bau
Die größte Katastrophe ereignete sich jedoch am 30. Oktober 2023. Zum Bau wurden auch illegal beschäftigte Arbeiter eingesetzt, von denen am 30. Oktober 2023 bei einem Arbeitsunfall fünf ums Leben kamen. Beim Einsturz eines sich über acht Stockwerke erstreckenden Baugerüstetes am 30. Oktober 2023 im Überseequartier stürzten fünf Menschen in die Tiefe, vier starben sofort, einer wurde lebensbedrohlich verletzt und starb 10 Tage später im Krankenhaus.
Die Tragödie wirft Fragen zur Baustellensicherheit und zum Umgang mit Subunternehmen auf, die über die üblichen Standards norddeutscher Großbaustellen hinausgehen. Ob bei kleineren Projekten oder Großprojekten wie dem Überseequartier – Schwarzarbeit ohne Versicherungsschutz – organisiert über Subsubsubunternehmen – ist an der Tagesordnung.
Hamburger Besonderheiten im Baurecht
Die Probleme des Überseequartiers sind nicht losgelöst von den spezifischen Rahmenbedingungen der Hansestadt zu betrachten. Hamburg als Stadtstaat verfügt über eine eigene Bauordnung, die sich von den Landesbauordnungen der Flächenländer unterscheidet. Die Kombination aus maritimem Baugrund und anspruchsvoller Architektur stellte bereits bei anderen Hamburger Prestigeprojekten besondere Herausforderungen dar.
Das Bauen auf wenig tragfähigem Baugrund in Wassernähe hat in Hamburg lange Tradition. Die oberen Bodenschichten bestehen zumeist aus Klei und Geschiebemergel. Erst in tieferen Lagen befinden sich tragfähige Sande. Aus diesem Grund wird in vielen Bereichen der Stadt auf eine sogenannte Pfahlgründung zurückgegriffen. Diese besonderen Baugrundverhältnisse erhöhen naturgemäß Komplexität und Kosten.
Kritik aus der Zivilgesellschaft
Die Initiative Lebenswerte HafenCity kritisiert das Projekt schon lange grundsätzlich. „Die Entscheidung (…), ein Shoppingcenter und ein Kreuzfahrtterminal in dieser Größe auf engstem Raum zusammenzubringen, ist städtebaulich und vor allem verkehrstechnisch für das zarte Pflänzchen HafenCity eine unzumutbare Belastung.“
Die Stadtplanungsexpertin Alexandra Czerner brachte die Kritik auf den Punkt: „Für den Klimaschutz ist die HafenCity ein Verbrechen.“ Eine harte Bewertung, die jedoch die grundsätzlichen Zweifel am Konzept großflächiger Shopping-Center in Zeiten des Online-Handels widerspiegelt.
Regionale Vergleiche und Einordnung
Das Überseequartier-Debakel reiht sich ein in eine Serie problematischer Hamburger Großprojekte. Die U5-Kostenexplosion von ursprünglich 1,754 Milliarden auf 2,857 Milliarden Euro zeigt ähnliche Muster. Auch die A26 Ost wird mit 1,8 Milliarden Euro bereits doppelt so teuer wie geplant.
Diese Häufung ist kein Zufall, sondern Symptom struktureller Probleme in der Hamburger Planungskultur. Während andere norddeutsche Metropolen wie Bremen oder Hannover bei Großprojekten durchaus erfolgreich agieren, scheint Hamburg besonders anfällig für Kostensteigerungen und Terminverschiebungen.
Ausblick: Lehren für die Zukunft
Der unter anderem durch Kompensationen für Mieter, die längere Bauzeit und Kostenüberschreitungen bereits entstandene Schaden in Höhe von rund 520 Millionen Euro werde voraussichtlich um weitere 100 Millionen wachsen. Diese Zahlen zeigen: Auch nach der Eröffnung wird das Projekt noch Jahre nachziehen.
Dass die „Flächen für Einzelhandel, Gastronomie, Unterhaltung und Kultur im Westfield Hamburg-Überseequartier zu 93% vermietet“ sind, ist zwar eine hervorragende Quote und wirkt angesichts der Nichteröffnungen leider zugleich wie ein Rufen im Walde.
Das Überseequartier wird trotz aller Probleme irgendwann eröffnen. Die Frage bleibt, ob Hamburg aus diesem Desaster lernt oder weiterhin Großprojekte mit unausgegorener Planung und mangelhafter Kostenkontrolle startet. Die forensische Untersuchung könnte wichtige Antworten liefern – sofern ihre Ergebnisse nicht in den Schubladen verschwinden.
Die Hansestadt täte gut daran, künftig bei der Projektauswahl weniger auf Prestige und mehr auf Machbarkeit zu setzen. Denn während sich Hamburg weiterhin als europäische Metropole inszeniert, mehren sich die Zweifel, ob die Stadt den selbst gesteckten Ansprüchen gerecht wird.

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