Soziale Infrastrukturen: Das vernachlässigte Fundament unserer Gesellschaft
In Deutschlands Städten und Gemeinden bröckelt das Fundament des sozialen Zusammenhalts – und zwar ganz buchstäblich. Schulen mit undichten Dächern, Schwimmbäder, die aus Kostengründen schließen müssen, und Universitätsgebäude, die eher an Bauruinen als an Tempel der Weisheit erinnern: Der Sanierungsstau bei sozialen Infrastrukturen hat alarmierende Ausmaße angenommen. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff, und warum ist er so entscheidend für unsere Gesellschaft?
Das Rückgrat des öffentlichen Lebens
Soziale Infrastrukturen sind weit mehr als nur Gebäude. Sie sind die physische Manifestation unserer gesellschaftlichen Werte und Prioritäten. Von der Kindertagesstätte über Schulen und Universitäten bis hin zu Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kultureinrichtungen – diese Orte prägen unser tägliches Leben und bilden das Rückgrat unserer Gemeinschaften. Sie sind Räume der Begegnung, des Lernens und der gegenseitigen Unterstützung. Kurzum: Sie sind die Bühne, auf der sich das Schauspiel unserer Demokratie täglich neu entfaltet.
Der Elefant im Klassenzimmer: Der Sanierungsstau
Doch dieses Rückgrat droht zu brechen. Laut dem KfW-Kommunalpanel 2024 beläuft sich allein der Investitionsrückstand bei Schulen auf schwindelerregende 54,8 Milliarden Euro. Diese Zahl ist mehr als nur eine statistische Größe – sie spiegelt sich in kaputten Schultoiletten, geschlossenen Turnhallen und veralteter technischer Ausstattung wider. Der Sanierungsstau ist der sprichwörtliche Elefant im Klassenzimmer, der nicht nur die Lernbedingungen beeinträchtigt, sondern auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit von Politik und Verwaltung untergräbt.
Zwischen Abriss und Aufbruch
Angesichts des massiven Sanierungsbedarfs sehen viele Kommunen nur noch einen Ausweg: Abriss und Neubau. Doch ist dies wirklich der Königsweg? Zwei Beispiele zeigen, dass es auch anders gehen kann. In Dortmund konnte durch eine bundesweit beachtete Petition der Abriss der historischen Kreuzschule verhindert werden. Stattdessen erhält sie nun einen Erweiterungsbau – ein Kompromiss, der Geschichte bewahrt und gleichzeitig moderne Anforderungen erfüllt.
Weniger Glück hatte bislang die Realschule im bayerischen Vilsbiburg. Der brutalistische Bau der 1960er Jahre, dessen offene Aula geradezu prädestiniert für zeitgemäße pädagogische Konzepte ist, steht trotz des Protests von Architekturverbänden vor dem Abriss. Ein fataler Fehler, wie ich aus meiner 40-jährigen Erfahrung als Architekt sagen kann. Denn gerade diese Bauten der Nachkriegsmoderne bieten oft flexible Grundrisse, die sich hervorragend an neue Nutzungsanforderungen anpassen lassen.
Die goldene Energie der Bestandsbauten
Der reflexartige Griff zur Abrissbirne verkennt einen entscheidenden Aspekt: den Wert der „grauen Energie„, die in Bestandsbauten steckt. Jedes Gebäude, das erhalten bleibt, spart nicht nur Ressourcen und CO2-Emissionen, sondern bewahrt auch ein Stück gebaute Geschichte. Es geht darum, die vorhandene Substanz wertzuschätzen und kreativ weiterzuentwickeln. Dieser Ansatz erfordert zwar oft mehr Phantasie und planerisches Geschick, führt aber zu nachhaltigeren und oft auch spannenderen Lösungen.
Neue Konzepte für alte Mauern
Die Herausforderungen sind vielfältig: Energetische Sanierung, Klimaanpassung, neue pädagogische Konzepte, Inklusion und Digitalisierung – all das muss unter einen Hut gebracht werden. Doch gerade darin liegt eine große Chance. Statt stereotyper Neubauten können durch kluge Umbauten und Erweiterungen einzigartige Lernlandschaftenentstehen, die Tradition und Innovation verbinden.
Ein Beispiel: In einer Grundschule in Hannover wurde aus einem tristen Betonbau der 1970er Jahre ein lebendiger Lernort. Durch den Einbau von Oberlichtern, flexiblen Raumteilern und einer ausgeklügelten Akustik entstand eine Umgebung, die sowohl konzentriertes Arbeiten als auch offenen Austausch fördert. Die Schülerinnen und Schüler erleben hier täglich, wie aus „alt“ „neu“ werden kann – eine Lektion in Sachen Nachhaltigkeit, die kein Schulbuch vermitteln könnte.
Investition in die Zukunft
Die Sanierung und Transformation sozialer Infrastrukturen ist mehr als eine bauliche Aufgabe – sie ist eine Investition in den gesellschaftlichen Zusammenhalt und in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Jeder Euro, der in die Modernisierung einer Schule oder eines Krankenhauses fließt, zahlt sich mehrfach aus: in Form besserer Bildungs- und Gesundheitsversorgung, aber auch als sichtbares Zeichen dafür, dass der Staat seine Verantwortung für das Gemeinwohlernst nimmt.
Fazit: Eine Frage der Prioritäten
Der Sanierungsstau bei sozialen Infrastrukturen ist keine Naturkatastrophe, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen – oder besser: Nicht-Entscheidungen. Es ist höchste Zeit, die Prioritäten neu zu setzen. Statt kurzfristiger Sparmaßnahmen braucht es eine langfristige Strategie, die den Wert sozialer Infrastrukturen als Grundlage unseres Zusammenlebens anerkennt.
Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um einen Perspektivwechsel: Weg von der Wegwerfmentalität, hin zu einer Kultur des Erhaltens und Weiterentwickelns. Nur so können wir Orte schaffen, die nicht nur funktional sind, sondern auch Identität stiften und Menschen zusammenbringen. Denn letztlich sind es diese Orte, an denen sich entscheidet, ob unsere Gesellschaft zusammenwächst oder auseinanderdriftet. Es liegt an uns Architektinnen und Architekten, Planerinnen und Planern, aber auch an jeder Bürgerin und jedem Bürger, dieses bauliche Rückgrat unserer Demokratie zu stärken – Stein für Stein, Idee für Idee.