
Ein Zirkus in der Zuckerdose – Moskaus Neubaupläne als Spiegel architektonischer Eskapismen
Showtime in der Krise
In politisch düsteren Zeiten greift Macht gern zum Glitzer. Der geplante Neubau des Großen Moskauer Staatszirkus lässt sich kaum anders deuten. Mitten im Ukrainekrieg, unter den Bedingungen einer repressiven Innenpolitik und zunehmender gesellschaftlicher Spannung, stellt Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin ein Projekt vor, das aussieht wie eine Mischung aus orientalischer Pickelhaube und Disneyland-Attraktion. Die geplante Architektur ist grell, monumental, verspielt – und hoch umstritten.
Nostalgie unter der Kuppel
Das 1971 eröffnete Originalgebäude des Zirkus war ein Meilenstein sowjetischer Ingenieurskunst. Entworfen von Jakow Belopolski, verfügte es über fünf austauschbare Manegen und bot Platz für 3.400 Zuschauerinnen und Zuschauer. Verkleidet in Glas, Granit und Aluminium, verband es Funktionalität mit einer dezenten Modernität, die selbst Leonid Breschnew gefallen musste – der sowjetische Parteichef hatte sogar einen eigenen Lift, der ihn diskret aus der Tiefgarage in die Regierungsloge beförderte.
Diese Mischung aus technischer Raffinesse und ideologischer Symbolik machte den Zirkus zu einem Wahrzeichen Moskaus. Für Künstlerinnen wie die Clownin Antoschka – bürgerlich Ekaterina Mozhaeva – war es ein Ort der Erinnerung und des Glanzes. Dass nun ausgerechnet dieses Gebäude einem farbenfrohen Fantasiebau weichen soll, stößt bei vielen Moskauerinnen und Moskauern auf Unverständnis.
Architektur als Ablenkungsmanöver
Es ist ein klassisches Rezept autoritärer Stadtplanung: In schwierigen Zeiten wird gebaut. Viel. Und möglichst spektakulär. Der neue Zirkus soll nicht nur größer, sondern auch bunter und „erlebnisorientierter“ sein. Rund 5.000 Sitzplätze, eine Fläche von 80.000 Quadratmetern, ein Lifestyle-Komplex mit Wasserfall von der Kuppel und angeblich „organischer Integration in die Umgebung“. Die Manege soll im Teil „Monomakh’s Hat“ untergebracht werden – benannt nach der Zarenkrone, ein symbolträchtiger Verweis auf Macht und Tradition.
Der Entwurf stammt ursprünglich von einem Unternehmen aus Singapur, überarbeitet vom russischen Büro Apex. Kritikerinnen und Kritiker vergleichen die Architektur mit einem überdimensionierten Chinkali, einem Porzellandeckel, einem Helm oder einem „Wurstbrötchen“. Der Begriff „Zuckerdose“ hat sich besonders eingeprägt.
Die Rückkehr des öffentlichen Protests
Erstaunlich offen artikulierten Bürgerinnen und Bürger ihre Ablehnung: Die kitschige Architektur wirke fehl am Platz, das traditionsreiche Bestandsgebäude verdiene stattdessen eine Sanierung. Für ein Land, in dem politische Kritik gefährlich geworden ist, wurde der Protest gegen die Baupläne zu einem Ventil. Ein Ersatzdiskurs, in dem sich städtischer Ärger und kulturelles Unbehagen mischten.
Die Stadt reagierte. Mehr als 250.000 Menschen beteiligten sich an einer Umfrage im Portal „Aktiver Bürger“. Ergebnis: Der neue Zirkus soll nicht am alten Standort am Prospekt Wernadskowo entstehen, sondern im Nordwesten Moskaus. Der berüchtigte „Wurstbrötchen“-Anbau wurde in den neuen Visualisierungen weggelassen oder zumindest abgemildert.
Eskapismus mit Rückwirkung
Was bleibt, ist ein architektonisches Paradoxon: Ein Projekt, das ablenken sollte, hat Kritik provoziert. Der geplante Neubau, als glanzvoller Akt staatlicher Potenz gedacht, wurde zur Bühne für zivilgesellschaftlichen Widerstand. Gerade weil die geplante Architektur in ihrer Übertreibung wie eine Karikatur wirkt, wurde sie zum Symbol für den Wunsch nach Mitbestimmung – und für das Misstrauen gegenüber einer Macht, die sich mit Ornamenten schmückt.
Die Inszenierung scheiterte an ihrem eigenen Anspruch. Eskapismus funktioniert nur, wenn er als Verführung gelingt. Wenn das Publikum aber beginnt, die Illusion zu durchschauen, wird der Zauber zur Farce. Der Clown verliert seine Maske – und das Publikum fragt nach dem Drehbuch.
Erinnerung oder Erneuerung?
Bleibt die Frage, wie mit dem alten Gebäude umgegangen wird. Noch ist unklar, ob der modernistische Pavillon erhalten bleibt, saniert oder doch abgerissen wird. Viele wünschen sich eine behutsame Restaurierung – ähnlich wie bei der Notre-Dame in Paris, wie Clownin Antoschka anmerkt. Architektur, die Spuren trägt, hat einen Wert, den keine glitzernde Ersatzkulisse bieten kann.
Der Fall des Moskauer Staatszirkus ist damit mehr als eine Debatte über Geschmack. Er zeigt, wie Architektur in autoritären Kontexten zur symbolischen Projektionsfläche wird – und wie ausgerechnet die Gestaltung eines Unterhaltungsbaus Fragen nach Macht, Erinnerung und Teilhabe aufwirft.

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