Baukunst - 30 Jahre Tag der Architektur: Wie Hessen Deutschland das Bürgerfest erfand
Tag der Architektur © Architektenkammer Hessen

30 Jahre Tag der Architektur: Wie Hessen Deutschland das Bürgerfest erfand

20.06.2025
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Berthold Bürger

Pioniergeist mit Strahlkraft: Hessens Architekturfestival

Als im Juni 1995 erstmals Türen zu privaten Häusern, Bürogebäuden und öffentlichen Bauten in Hessen geöffnet wurden, ahnte niemand, welche bundesweite Bewegung damit ausgelöst werden würde. Gemeinsam mit Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Thüringen war Hessen seinerzeit Vorreiter bei der Konzeption und Durchführung dieser Veranstaltung, die schließlich bundesweit übernommen wurde. Was als regionale Initiative begann, ist heute zum größten Baukulturevent Deutschlands gewachsen.

30 Jahre später hat der Tag der Architektur nichts von seiner Faszination verloren – im Gegenteil: In den vergangenen Jahren nutzten jährlich rund 10.000 Besucherinnen und Besucher hessenweit dieses Angebot. Die Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen (AKH) hat mit diesem Format ein demokratisches Instrument geschaffen, das Baukultur aus der Expertennische befreit und für alle Bürgerinnen und Bürger erlebbar macht.

2025: Vielfalt als Programm

Am 28. und 29. Juni 2025 können 74 Projekte aus Architektur, Innen- und Landschaftsarchitektur sowie des Städtebaus in ganz Hessen besichtigt werden. Das bundesweite Motto „Vielfalt bauen“ könnte treffender nicht sein für ein Land, das von der Großstadtarchitektur Frankfurts bis zu ländlichen Fachwerkensembles alle Facetten des Bauens repräsentiert.

Das Auswahlgremium setzt sich aus insgesamt sechs Personen – Expertinnen und Experten der verschiedenen Fachrichtungen (Architektur, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung) und der berufsständischen Interessen sowie einer Medienvertreterin oder einem Medienvertreter – zusammen. Diese Zusammensetzung garantiert sowohl fachliche Kompetenz als auch öffentliche Verständlichkeit der Projektauswahl.

Die Bandbreite der 2025 teilnehmenden Projekte spiegelt aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wider: Von energetischen Sanierungen historischer Bausubstanz über innovative Holzbauprojekte bis hin zu genossenschaftlichen Wohnformen. Besonders bemerkenswert ist die Entwicklung hin zu Umbauprojekten und nachhaltigen Lösungen – ein Trend, der die veränderten Prioritäten in der Baubranche widerspiegelt.

Demokratie der Begegnung

Der Erfolg des Tags der Architektur basiert auf einem einfachen, aber revolutionären Prinzip: direkte Begegnung zwischen Fachleuten und Laien. Gemeinsam mit den Bauherren öffnen sie ihre Türen, stehen Rede und Antwort und geben Einblicke in die Arbeit des gesamten Berufsstands. Diese Unmittelbarkeit unterscheidet das hessische Format wohltuend von sterilen Architekturausstellungen oder akademischen Vorträgen.

Planende und Bauherrinnen nutzen die Gelegenheit, ihre Projekte ohne Marketingfilter zu präsentieren. Besucherinnen und Besucher erhalten authentische Einblicke in Entstehungsprozesse, Herausforderungen und Kompromisse. Oft entstehen dabei fruchtbare Diskussionen über alternative Lösungsansätze oder übertragbare Konzepte.

Qualität statt Spektakel

Bewusst verzichtet der Tag der Architektur auf Star-Architektur und setzt stattdessen auf „gute Alltagsarchitektur“. Jährlich wählen Fachleute die gezeigten Bauten und Objekte aus und stellen ein ausgewogenes Programm ganz im Zeichen der anspruchsvoll gebauten Umwelt zusammen. Diese Fokussierung auf Qualität statt Quantität oder Spektakel macht den besonderen Reiz des hessischen Formats aus.

Die Projekte müssen sich nicht durch architektonische Extravaganzen auszeichnen, sondern durch intelligente Lösungen für alltägliche Bauaufgaben. Ein umgebauter Gutshof in Nordhessen kann dabei ebenso inspirierend sein wie ein nachhaltiges Bürogebäude in Frankfurt. Diese Demokratisierung des Architekturdiskurses hat das Verständnis für gute Baukultur in der Bevölkerung nachhaltig geprägt.

Von analog zu digital: Evolution eines Formats

Aus Nachhaltigkeitsgründen erscheint das bisherige Faltprogramm mit den Öffnungszeiten der Projekte nicht mehr gedruckt, sondern liegt in digitaler Form vor. Diese scheinbar technische Neuerung symbolisiert den Wandel des gesamten Formats: War der Tag der Architektur ursprünglich ein rein analoges Erlebnis, nutzt er heute geschickt digitale Möglichkeiten zur Reichweitensteigerung.

Alle TdA-Projekte können zusätzlich virtuell auf den Baukultour-Seiten der AKH besichtigt werden. Diese Hybridstrategie erweitert die Zielgruppe erheblich: Wer physisch nicht vor Ort sein kann, erhält dennoch Zugang zu den Projekten. Gleichzeitig bleibt die persönliche Begegnung vor Ort das Herzstück der Veranstaltung.

Rahmenprogramm als Bildungsoffensive

Das Event wird durch ein vielseitiges Rahmenprogramm sowie durch die Aktion „Offenes Büro“ bereichert. Diese Erweiterungen transformieren den Tag der Architektur von einer reinen Besichtigungsveranstaltung zu einem umfassenden Bildungsformat. Workshops, Vorträge und Diskussionsrunden vertiefen die vor Ort gewonnenen Eindrücke und schaffen Raum für fachlichen Austausch.

Am Donnerstag, 26. Juni 2025, 18-20 Uhr findet in der Forschungsstation TRACES das „TDA-Architekturgespräch“ in Kassel statt. Dieses neue Format bildet die offizielle Auftaktveranstaltung zum großen Architekturwochenende. Solche ergänzenden Veranstaltungen zeigen, wie sich der Tag der Architektur kontinuierlich weiterentwickelt und neue Zielgruppen erschließt.

Gesellschaftlicher Spiegel: Vom Neubau zum Umbau

Die inhaltliche Entwicklung des Tags der Architektur spiegelt gesellschaftliche Prioritäten wider. Bauen im Bestand, denkmalgerechte Sanierungen und Umbaumaßnahmen standen dabei für die AKH im Fokus, außerdem Beispiele für nachhaltiges Bauen mit Holz. Dieser Wandel von der Neubau-Euphorie früherer Jahrzehnte hin zu ressourcenschonendem Umgang mit Bestandsgebäuden zeigt, wie sensitiv das Format auf veränderte gesellschaftliche Anforderungen reagiert.

Der Neubau, Betrieb und Abriss von Gebäuden gehört zu den größten Klimakillern weltweit und ist für rund 40 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Vor diesem Hintergrund funktioniert der Tag der Architektur als niedrigschwelliger Vermittler für komplexe Nachhaltigkeitsthemen. Besucherinnen und Besucher erleben konkret, wie kreative Umbaulösungen sowohl ökologisch als auch ästhetisch überzeugen können.

Regionale Vielfalt als Stärke

Hessen bietet durch seine geografische und kulturelle Vielfalt ideale Voraussetzungen für ein landesweites Architekturfestival. Von der Großstadtdichte des Rhein-Main-Gebiets über die Mittelgebirgstopografie bis zu den ländlichen Strukturen Nordhessens entstehen unterschiedlichste Bauaufgaben und Lösungsansätze. Diese Diversität macht jede Teilnahme am Tag der Architektur zu einer Entdeckungsreise durch verschiedene Planungskulturen.

Die regionale Verteilung der Projekte zeigt bewusst auf, dass gute Architektur nicht an Ballungsräume gebunden ist. Ein gelungenes Dorfgemeinschaftshaus in der Rhön kann architektonisch ebenso bemerkenswert sein wie ein preisgekröntes Bürogebäude in Frankfurt. Diese Gleichwertigkeit verschiedener Maßstäbe und Kontexte ist eine wichtige Botschaft für eine ausgewogene Landesentwicklung.

Herausforderungen und Perspektiven

114 Projekte waren für den Tag der Architektur 2024 eingereicht worden. 81 ausgewählte Projekte sind beim Aktionswochenende für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Diese Zahlen zeigen sowohl die hohe Resonanz bei den Planenden als auch die Notwendigkeit einer qualifizierten Auswahl. Die Herausforderung für die Zukunft liegt darin, die Balance zwischen Quantität und Qualität zu halten.

Gleichzeitig muss sich der Tag der Architektur neuen gesellschaftlichen Realitäten stellen: Wie erreicht man junge Zielgruppen, die primär digital kommunizieren? Wie vermittelt man komplexe Nachhaltigkeitsthemen ohne belehrend zu wirken? Wie bleibt das Format innovativ, ohne seine bewährten Stärken zu verlieren?

Fazit: Erfolgsmodell mit Zukunft

Nach 30 Jahren hat sich der Tag der Architektur in Hessen als nachhaltiges Erfolgsmodell etabliert. Die Kombination aus fachlicher Kompetenz, gesellschaftlicher Relevanz und niedrigschwelliger Vermittlung macht das Format zu einem Musterbeispiel gelungener Baukultur-Kommunikation. Die kontinuierliche Weiterentwicklung – von der Digitalisierung bis zur inhaltlichen Neuorientierung – zeigt, dass sich Traditionen durchaus modernisieren lassen, ohne ihre Identität zu verlieren.

Der hessische Pioniergeist von 1995 ist auch 2025 spürbar: als Mut zu Innovation, als Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger und als Überzeugung, dass gute Architektur ein Recht aller ist. In diesem Sinne bleibt der Tag der Architektur Hessen nicht nur ein regionales Ereignis, sondern ein bundesweites Vorbild für demokratische Baukultur-Vermittlung. mehr…