Baukunst - Analoges Kühlen - Der Fächer als Kulturgut in heißen Zeiten
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Analoges Kühlen – Der Fächer als Kulturgut in heißen Zeiten

22.07.2025
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Ignatz Wrobel

Die Hitze spüren – und handeln

Im STRESSTEST-Raum des Deutschen Pavillons auf der 19. Architekturbiennale in Venedig strahlt eine Stahlskulptur gespeicherte Wärme ab. Die Besucherinnen und Besucher erleben körperlich, was Überhitzung bedeutet. Daniele Santucci vom Kuratorenteam bringt es auf den Punkt: “Es geht um eine sinnliche Erfahrung.” Diese Unmittelbarkeit der Hitze-Erfahrung führt zu einer bemerkenswerten Parallele: Während Architektinnen und Stadtplaner über komplexe Schwammstadt-Konzepte und klimaresiliente Strukturen diskutieren, greifen immer mehr Menschen zu einer jahrtausendealten Lösung – dem Fächer.

In Valencia, nur eine Flugstunde von Venedig entfernt, kann Guillermo Carbonell diese Renaissance hautnah beobachten. Der 71-Jährige führt eine der ältesten verbliebenen Fächermanufakturen Europas. “Fächer sind plötzlich wieder in Mode”, sagt er und erzählt von Schlangen vor seinem Geschäft wie in den 1960er Jahren. Die Nachfrage ist so groß, dass spontane Großbestellungen – etwa 300 Stück für eine Hochzeit – nur mit einem Jahr Vorlaufzeit möglich sind.

Vom Statussymbol zum Klimaretter

Die Geschichte des Fächers reicht weit zurück. Frühe Darstellungen um 1800 vor Christus zeigen Diener mit Palmwedeln und Straußenfedern. Der faltbare Fächer, wie wir ihn heute kennen, wurde der Überlieferung nach im 7. Jahrhundert von einem japanischen Bauern erfunden, der die Flügelbewegungen einer Fledermaus beobachtete. Über Venedig gelangte diese Innovation im 12. Jahrhundert nach Europa, wo der Fächer zum weiblichen Statussymbol avancierte.

Bis ins frühe 19. Jahrhundert diente er als raffiniertes Kommunikationsmittel beim Flirten: Ein vor der Brust geöffneter Fächer bedeutete Ja, die Rückseite zeigte Nein an. In Edith Whartons Roman “Zeit der Unschuld” löst eine flüchtige Berührung mit dem Fächer literarische Ekstase aus – die Londoner Times nannte es einen der “schärfsten Momente” der Literatur des 20. Jahrhunderts.

Mit abnehmender Etikette und klimatisierten Räumen verschwand der Fächer weitgehend aus dem europäischen Alltag. Nur in Spanien blieb er durch den Flamenco Teil der Folklore. Karl Lagerfeld machte ihn zu seinem Markenzeichen – angeblich, um Zigarettenrauch und Mundgeruch anderer zu vertreiben, tatsächlich aber auch als effektvolles Machtinstrument.

Handwerk trifft Haute Couture

Die aktuelle Renaissance hat prominente Fürsprecher. Rihanna zeigte sich 2016 in Paris mit rosafarbenem Fächer, David Beckham fächelte sich 2022 in Venedig Luft zu. Auf Konzerten und Tennisturnieren gehört das Accessoire mittlerweile zur Standardausstattung. H&M bietet Plastikversionen für 7,99 Euro an, Prada verlangt für Modelle mit Kordel 690 Euro.

Diese Preisspanne spiegelt die Kluft zwischen Massenware und Handwerkskunst wider. “Die haben keine Ahnung, dass die echten spanischen Fächer komplett in Handarbeit entstehen und ein Dutzend Arbeitsschritte erfordern”, erklärt Carbonell. In seiner Werkstatt in Valencia sitzt Imma Cases am Fenster und faltet mit einer über hundert Jahre alten Pappform den Stoff. Blitzschnell entstehen die präzisen Plissees, die dann Falte für Falte an die 12 bis 48 Stäbchen geklebt werden.

Die Qualität zeigt sich im Detail: “Sind alle Stäbe exakt gleich lang und ganz glatt gefeilt, stammen sie mit ziemlicher Sicherheit aus Spanien”, verrät Carbonell seinen Qualitätstest. “Fühlen sie sich eher rau und uneben an, ist es garantiert Billigware aus China.” Auch akustisch unterscheiden sich die Qualitäten: Ein gut gearbeiteter Fächer klingt beim Öffnen und Schließen “satt” und “rund”, weil jede Falte perfekt einrastet.

Luxusmarken entdecken die Tradition

Viele Luxusmarken lassen in Valencia produzieren, ohne es öffentlich zu machen. Armani, Loewe und Dior arbeiten hingegen offen mit Carbonell zusammen. Als Maria Grazia Chiuri 2023 ihre Cruise Collection in Sevilla zeigte, kam sie mit einer ganzen Entourage in den Laden. “Sie nehmen alles, was mit Handwerk zu tun hat, offenbar sehr ernst”, erinnert sich Paula Carbonell, die das Familienunternehmen in fünfter Generation führt.

Das Ergebnis waren schwarze Fächer mit gemusterter Spitze, Dior-Logo und goldener Schließe. Die Bilder des Defilés gingen um die Welt, überall waren Models mit Fächern zu sehen. Demna zeigte für Balenciaga pechschwarze Exemplare mit extra großem Markenschriftzug – der Fächer als Statussymbol des 21. Jahrhunderts.

Analoges Wedeln in digitalen Zeiten

Der Hauptgrund für die Wiederentdeckung sind zweifellos die heißer werdenden Sommer. Elisabeth Endres vom STRESSTEST-Team formuliert es so: “Wir wollen zeigen, dass wir mit einfachen Mitteln, mit bewährten Prinzipien viel verändern können.” Der Fächer verkörpert diese Einfachheit perfekt – eine Klimaanlage für die Hand, die weder Strom noch Ladekabel benötigt.

In technisierten Zeiten wirkt das analoge Wedeln nostalgisch und zugleich avantgardistisch. Es ist eine bewusste Entscheidung gegen die Abhängigkeit von Technik, ein Statement für Eigenverantwortung im Umgang mit der Klimakrise. Während Stadtplanerinnen und Architekten über komplexe Verschattungssysteme und Verdunstungsanlagen nachdenken, praktizieren Fächer-Nutzer bereits individuelles Klimamanagement.

Der Fächer als Zukunftsmodell

Die Carbonells in Valencia produzieren jährlich etwa 20.000 Fächer – Tendenz steigend. Immer öfter kommen Kundinnen und Kunden mit antiken Erbstücken zur Restaurierung. “Wir haben hier schon Fächer gehabt, an denen kaum noch Stoff hing”, erzählt Guillermo Carbonell. Die Bereitschaft, in Reparatur und Erhalt zu investieren, zeigt einen Bewusstseinswandel.

Der Fächer wird zum Symbol einer neuen Bescheidenheit im Umgang mit Ressourcen. Er verkörpert, was das STRESSTEST-Team “bewährte Prinzipien” nennt: Durchlüftung, Bewegung, individuelle Anpassung. Während die Architekturbiennale nach großen Lösungen für die Überhitzung der Städte sucht, bietet der Fächer eine kleine, aber wirksame Antwort.

Gabriele G. Kiefer vom Kuratorenteam betont: “Klimaresiliente Strukturen können wir nur schaffen, wenn wir aufhören, sektoral zu denken.” Der Fächer überwindet diese Grenzen mühelos – er ist Werkzeug, Mode-Accessoire, Kulturgut und Klimaanpassung in einem. In Zeiten, in denen jede eingesparte Kilowattstunde zählt, wird das stromlose Wedeln zur zukunftsweisenden Technologie.

Wenn im Sommer 2025 wieder Hitzewellen über Europa rollen, werden es nicht nur Klimaanlagen und Schwammstädte sein, die Linderung verschaffen. Es werden auch die kleinen, faltbaren Kunstwerke sein, die in Handtaschen und Jacketts auf ihren Einsatz warten – bereit, mit einer eleganten Handbewegung für Abkühlung zu sorgen.