Baukunst-Berlins Bausenator gegen das Volk – Wie die Politik den Tempelhofer-Feld-Entscheid aushebeln will
Berlin ©Jonas Tebbe/Unsplash

Berlins Bausenator gegen das Volk – Wie die Politik den Tempelhofer-Feld-Entscheid aushebeln will

26.07.2025
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Claudia Grimm

Tempelhofer Feld: Zwischen Volksentscheid und Visionen

Berlins größter Freiraum ringt um seine Zukunft

Das Tempelhofer Feld bleibt Berlins neuralgischer Punkt. Elf Jahre nach dem historischen Volksentscheid, der jegliche Bebauung kategorisch ausschloss, entfaltet sich erneut eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der 386 Hektar großen Freifläche. Die Ergebnisse des soeben entschiedenen Ideenwettbewerbs offenbaren dabei nicht nur architektonische Visionen, sondern auch die tief verwurzelten Konflikte einer Stadt, die zwischen Wohnungsnot und Freiraumerhalt oszilliert.

Das schwere Erbe eines monumentalen Bauwerks

Der Diskurs um das Tempelhofer Feld kann nicht ohne seinen baulichen Rahmen verstanden werden. Mit 1,2 Kilometern Länge bildet das ehemalige Flughafengebäude – seit 2011 “Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst” – Europas größtes Baudenkmal. Ernst Sagebiel schuf ab 1936 eine Architektur der Superlative: 40 Meter auskragende Dächer, geplante Tribünen für 80.000 Menschen, unterirdische Bahntunnel. Die monumentale NS-Architektur aus Muschelkalk und Stahl sollte Macht demonstrieren. Doch die Geschichte transformierte das Symbol totalitärer Größe: Während der Berliner Luftbrücke 1948/49 landeten hier im 90-Sekunden-Takt die “Rosinenbomber” – das Gebäude wurde vom Instrument der Diktatur zum Garanten der Freiheit. Diese Ambivalenz prägt bis heute die Debatten: Jeder Eingriff in das Feld berührt auch die vielschichtige Geschichte zwischen Repression und Befreiung.

Sechs Visionen, zwei Lager

Die Jury unter Vorsitz der Bremer Senatsbaudirektorin Iris Reuther wählte sechs gleichrangige Preisträgerinnen und Preisträger aus – eine salomonische Entscheidung, die die Polarisierung der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Vier der prämierten Arbeiten respektieren den Volksentscheid und verzichten auf jegliche Randbebauung. Sie interpretieren das Feld als ökologische und kulturelle Ressource neu: Franz Reschke Landschaftsarchitektur entwirft mit “*Stadtlichtung” eine Aufforstung der Randbereiche und stärkt damit die klimatische Funktion des Areals. Das Kollektiv Raumlabor denkt gemeinsam mit Klaus Overmeyer das Feld als “sozioökologische Infrastruktur” und konzentriert sich auf die Transformation bestehender Strukturen.

Demgegenüber stehen zwei Entwürfe, die das Tabu der Bebauung brechen. De Zwarte Hond und Grieger Harzer Dvorak Landschaftsarchitekten wagen mit “Seilziehn” einen mutigen Vorstoß: 2.400 Wohneinheiten, arrangiert in Blöcken und einem markanten Hochhaus am Tempelhofer Damm. Das Kopenhagener Büro Schønherr geht mit “Tempelhofer Atem” noch weiter und plant eine fast vollständige Bebauung der westlichen und südlichen Ränder – Geschosswohnungsbau als urbane Kante, Reihenhäuser als Übergang zum Freiraum.

Die Berliner Planungskultur im Stresstest

Christian Gaebler, Senator für Stadtentwicklung, formulierte bei der Pressekonferenz den Anspruch, aus der “Schwarz-Weiß-Diskussion” herauszukommen. Ein hehres Ziel, das an der Berliner Realität zu scheitern droht. Denn die Debatte um das Tempelhofer Feld offenbart exemplarisch die Besonderheiten der Berliner Planungskultur: Nirgendwo sonst in Deutschland prallen direkte Demokratie und Planungshoheit so unmittelbar aufeinander.

Der Volksentscheid von 2014, bei dem sich 64,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler gegen jegliche Bebauung aussprachen, manifestierte eine neue Form urbaner Selbstbestimmung. Das daraus resultierende Tempelhofer-Feld-Gesetz (ThF-G) wurde zum Symbol einer Stadtgesellschaft, die ihre Freiräume verteidigt. Die aktuelle CDU-SPD-Koalition interpretiert diesen demokratischen Akt nun als Hindernis für die Bewältigung der Wohnungskrise – ein Konflikt, der weit über Berlin hinaus Bedeutung hat.

Regionale Besonderheiten prägen die Debatte

Die spezifisch Berliner Situation zeigt sich in mehreren Aspekten: Anders als in München oder Hamburg, wo Wohnungsbau meist konsensfähig ist, mobilisiert in Berlin jede größere Bauabsicht erheblichen Widerstand. Die Ursachen liegen in der besonderen Stadtgeschichte: Die Erfahrung der Kahlschlagsanierung in den 1970er Jahren, die Gentrifizierungsprozesse seit der Wende und nicht zuletzt die symbolische Bedeutung des Tempelhofer Feldes als Ort der Freiheit prägen das kollektive Bewusstsein.

Hinzu kommt die föderale Struktur Berlins als Stadtstaat. Während in Flächenländern die Landesplanung abstrakt bleibt, manifestiert sich in Berlin jede landespolitische Entscheidung unmittelbar im städtischen Raum. Die Berliner Bauordnung und ihre Auslegung werden damit zum Politikum ersten Ranges.

Klimaanpassung als neues Argument

Bemerkenswert ist die Verschiebung der Argumentationslinien. Während 2014 vor allem soziale und kulturelle Aspekte dominierten, rückt nun die klimatische Bedeutung des Feldes in den Vordergrund. Die sommerlichen Temperaturmessungen belegen: Das Tempelhofer Feld kühlt die angrenzenden Quartiere um bis zu drei Grad ab. In Zeiten zunehmender Hitzeperioden wird diese Funktion existenziell.

Die Landschaftsarchitektin Maren Brakebusch aus der Jury betonte denn auch die Notwendigkeit, Freiräume nicht nur zu erhalten, sondern aktiv weiterzuentwickeln. Die prämierten Entwürfe ohne Bebauung zeigen, wie eine solche Transformation aussehen könnte: Aufforstung zur CO2-Bindung, Wasserflächen zur Verdunstungskühlung, extensive Landwirtschaft zur Nahrungsmittelproduktion. Dabei müssen sie sich mit dem denkmalgeschützten Gebäudekomplex auseinandersetzen – eine zusätzliche Herausforderung, die jeden Planungsansatz verkompliziert.

Der gordische Knoten der Wohnungspolitik

Die Befürworterinnen und Befürworter einer Randbebauung argumentieren mit Berlins eklatantem Wohnungsmangel. Tatsächlich fehlen nach offiziellen Schätzungen mindestens 200.000 Wohnungen. Der Koalitionsvertrag sieht für eine mögliche Bebauung des Tempelhofer Feldes ausschließlich landeseigene Wohnungsunternehmen und gemeinwohlorientierte Genossenschaften vor – ein Versuch, die Akzeptanz zu erhöhen.

Doch die Rechnung geht nicht auf. Die zweite Dialogwerkstatt im September 2024 zeigte: Die Mehrheit der 275 Bürgervertreterinnen und -vertreter lehnt eine Bebauung weiterhin ab. Die Berliner Stadtgesellschaft beharrt auf ihrem demokratisch erkämpften Freiraum.

Ausblick: Dialog statt Dekret

Die dritte Dialogwerkstatt am 12. Juli 2025 wird zeigen, ob die vorgelegten Visionen tatsächlich zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Die Entscheidung des Abgeordnetenhauses im September wird dann offenbaren, ob die Politik den Mut aufbringt, gegen den erklärten Bürgerwillen zu handeln – oder ob sie alternative Wege zur Lösung der Wohnungskrise sucht.

Die Berliner Erfahrung lehrt: Stadtentwicklung gegen die Bevölkerung funktioniert nicht. Die kreative Energie, die das Tempelhofer Feld seit seiner Öffnung 2010 freisetzt, die spontanen Nutzungen vom Urban Gardening bis zum Drachenfliegen, die kulturellen Events und sozialen Projekte – all das macht den Ort zu mehr als einer Freifläche. Es ist ein Labor urbaner Möglichkeiten, dessen Wert sich nicht in Quadratmetern Wohnfläche bemessen lässt.

Die sechs prämierten Entwürfe des Ideenwettbewerbs bieten nun eine Diskussionsgrundlage jenseits von Maximalforderungen. Sie zeigen: Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß, Bebauung oder Brache. Die Zukunft des Tempelhofer Feldes liegt möglicherweise in einer intelligenten Weiterentwicklung, die sowohl die demokratische Entscheidung respektiert als auch neue Antworten auf drängende Fragen findet. Ob Berlin diese Chance nutzt, wird sich zeigen.