Baukunst - 13 Millionen für eine Ruine: Wiesbadens riskanter Immobilien-Deal
Wiesbaden © lapping/Pixabay

13 Millionen für eine Ruine: Wiesbadens riskanter Immobilien-Deal

26.07.2025
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Claudia Grimm

Wiesbaden kauft das Rote Hochhaus: Städtebauliche Intervention im Quartier Schelmengraben

Wenn die öffentliche Hand zum Retter wird

Das Rote Hochhaus im Wiesbadener Schelmengraben gleicht einer städtebaulichen Wunde. Verwahrloste Ladenpassagen, wilde Müllablagerungen und Schrottautos prägen das Bild. Nun greift die Landeshauptstadt zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sie kauft das heruntergekommene Ensemble für knapp 13 Millionen Euro. Ein mutiger Schritt oder ein riskantes Unterfangen?

Ernst Mays Erbe in der Krise

Der Schelmengraben trägt die Handschrift eines der bedeutendsten deutschen Stadtplaner: Ernst May, der als Stadtbaurat von Frankfurt am Main in den 1920er Jahren das “Neue Frankfurt” prägte, entwarf das Quartier in den 1960er Jahren. Die Großsiedlung mit ihren rund 6.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sollte modernen Wohnraum im Grünen bieten. Heute kämpft sie mit dem Stigma sozialer Brennpunkt zu sein.

Das Herzstück der Anlage, das 17-geschossige Rote Hochhaus an der Karl-Marx-Straße, verkörpert exemplarisch den Niedergang vieler Nachkriegssiedlungen. Von den mehr als 150 Wohnungen steht ein Viertel leer. Die asbesthaltige Fassade bröckelt, die Ladenpassage wirkt wie aus der Zeit gefallen. Mehrere Eigentümerwechsel in den vergangenen Jahren haben die Situation verschlimmert. Zuletzt gehörte das Ensemble einer luxemburgischen Gesellschaft, die es als Teil eines Schuldenportfolios “eher zufällig” erworben hatte, wie SEG-Geschäftsführer Roland Stöcklin berichtet.

Hessische Planungskultur im Wandel

Der Ankauf durch die städtische Entwicklungsgesellschaft SEG markiert einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel in der hessischen Wohnungspolitik. “Der freie Markt wird es nicht regeln”, konstatiert Stöcklin nüchtern. Diese Erkenntnis steht im Kontrast zur lange Zeit dominierenden Philosophie, wonach sich der Wohnungsmarkt selbst reguliere.

Die Landeshauptstadt reiht sich damit in eine wachsende Zahl hessischer Kommunen ein, die wieder aktiv in den Wohnungsmarkt eingreifen. Frankfurt am Main mit seiner neuen kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, Darmstadt mit gezielten Vorkaufsrechten oder Kassel mit der Revitalisierung der Nordstadt – überall zeigt sich: Die Kommunen übernehmen wieder Verantwortung für bezahlbaren Wohnraum.

Asbestsanierung als Herkulesaufgabe

Die technischen Herausforderungen sind immens. Die asbesthaltige Fassade des Hochhauses muss komplett saniert werden – ein Unterfangen, das nicht nur kostspielig ist, sondern auch logistisch komplex. Die Mieterinnen und Mieter müssen während der Sanierung ausziehen, was soziale Härten mit sich bringt. Baudezernent Andreas Kowol (Die Grünen) rechnet mit Sanierungskosten von bis zu 15 Millionen Euro – zusätzlich zum Kaufpreis.

Die hessische Bauordnung stellt bei Asbestsanierungen strenge Anforderungen. Spezialfirmen müssen unter Vollschutz arbeiten, die Entsorgung erfolgt als Sondermüll. Gerade bei Großprojekten wie dem Roten Hochhaus kann sich die Sanierungsdauer erheblich verlängern. Andere hessische Städte haben bei vergleichbaren Projekten durchaus positive Erfahrungen gemacht: In Offenbach wurde das ehemalige Behördenhochhaus am Stadthof erfolgreich saniert und in Wohnraum umgewandelt.

Regionale Förderlandschaft als Chance

Hessen bietet für solche Mammutprojekte eine differenzierte Förderlandschaft. Das Landesprogramm “Wohnraum für Familien” könnte ebenso greifen wie Mittel aus der Städtebauförderung. Besonders interessant: Das neue hessische Quartiersmanagement-Programm, das explizit auf die Aufwertung von Großsiedlungen zielt. Wiesbaden könnte hier Modellcharakter entwickeln.

Die Nachbarstadt Mainz hat mit der Sanierung der Großsiedlung Lerchenberg vorgemacht, wie aus einem Problemviertel ein lebenswertes Quartier werden kann. Dort flossen über zehn Jahre hinweg Fördermittel von Bund, Land und EU in die Modernisierung. Ein ähnlicher Ansatz könnte auch für den Schelmengraben Erfolg versprechen.

Soziale Verantwortung vs. wirtschaftliche Vernunft

Die politische Debatte um den Ankauf offenbart klassische Konfliktlinien der Kommunalpolitik. Die CDU-Fraktion forderte, die SEG solle Bestandsimmobilien verkaufen, um die Eigenkapitalerhöhung von 15 Millionen Euro zu finanzieren. Das Linksbündnis blockierte diesen Vorschlag – ein Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung.

Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) spricht von einem “deutlichen Zeichen für soziale Verantwortung”. Kritiker sehen hingegen ein unkalkulierbares finanzielles Risiko. Tatsächlich bewegt sich die Stadt auf einem schmalen Grat: Gelingt die Revitalisierung, könnte der Schelmengraben zum Vorzeigequartier werden. Scheitert sie, droht ein finanzielles Debakel.

Neue Impulse für den Einzelhandel

Interessant ist der geplante Ansatz für die Erdgeschosszone. Ein neuer Lebensmittelmarkt mit über 2.000 Quadratmetern soll das Zentrum beleben. Die marode Ladenpassage könnte teilweise abgerissen und durch 100 bis 130 neue Wohnungen ersetzt werden. Dieser Mix aus Wohnen und Nahversorgung entspricht modernen städtebaulichen Konzepten der “Stadt der kurzen Wege”.

Die Herausforderung liegt in der Übergangsphase. Bis zur geplanten Revitalisierung ab 2027/2028 muss die Stadt das Ensemble verwalten und die Verwahrlosung stoppen. “Eigentum verpflichtet”, mahnt Stöcklin. Erste Maßnahmen wie die Entsorgung der Schrottautos sollen schnell erfolgen.

Lehren für andere Kommunen

Der Wiesbadener Weg könnte Schule machen. Viele hessische Kommunen stehen vor ähnlichen Herausforderungen mit vernachlässigten Großsiedlungen. Die Erfahrungen aus dem Schelmengraben werden genau beobachtet werden. Funktioniert das Modell, könnte es zur Blaupause für andere Städte werden.

Entscheidend wird sein, ob die Stadt es schafft, die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner mitzunehmen. Viele fühlen sich im Quartier wohl, trotz aller Probleme. Eine behutsame Modernisierung, die bezahlbare Mieten erhält und gleichzeitig die Wohnqualität verbessert, wird zur Quadratur des Kreises.

Der Ankauf des Roten Hochhauses ist mehr als eine Immobilientransaktion. Er markiert eine Zeitenwende in der kommunalen Wohnungspolitik: weg vom Laissez-faire, hin zur aktiven Gestaltung. Ob Wiesbaden damit zum Vorreiter oder zum abschreckenden Beispiel wird, werden die kommenden Jahre zeigen.