
Die unerwartete Renaissance des Rohen
Viele Jahre habe ich als Architekt gearbeitet, und fast genauso lange musste ich mir anhören, dass Betonbauten der 1960er und 70er Jahre “Schandflecke” seien. Heute fotografieren Hipster genau diese Gebäude für ihre Instagram-Accounts, und Architekturstudierende pilgern zu brutalistischen Ikonen wie andere zu Wallfahrtsorten. Was ist passiert?
Das Münchner Strafjustizzentrum steht exemplarisch für diese Zeitenwende. Der monumentale Betonkoloss von 1974, entworfen von Gunter Henn und Max Speidel, sollte eigentlich längst Geschichte sein. Stattdessen formiert sich eine breite Allianz aus Denkmalschützern und Denkmalschützerinnen, Architekturliebhabern und sogar ehemaligen Kritikerinnen, die für seinen Erhalt kämpfen. Die Ironie dabei: Ausgerechnet ein Gebäude, das Recht und Ordnung symbolisiert, wird zum Rebellionsobjekt einer neuen Architekturbewegung.
Vom Hassobjekt zur Ikone
Der Brutalismus hat einen bemerkenswerten Imagewandel durchlaufen. Was in den 1980er und 90er Jahren als “unmenschlich” und “kalt” verschrien war, wird heute als “authentisch” und “ehrlich” gefeiert. Diese Neubewertung ist kein Zufall, sondern Resultat eines veränderten gesellschaftlichen Bewusstseins.
Die Generation, die heute den Brutalismus wiederentdeckt, ist mit glatten Glasfassaden und belanglosen Investorenarchitekturen aufgewachsen. In einer Welt der digitalen Oberflächlichkeit sehnen sich viele nach der rauen Materialität des Betons, nach Gebäuden, die eine klare Haltung ausdrücken. Der Brutalismus verspricht genau das: kompromisslose Architektur ohne kosmetische Verschönerung.
Dabei ist die neue Liebe zum Beton durchaus selektiv. Während ikonische Bauten wie die Londoner Barbican Estate oder das Corbusierhaus in Berlin Kultstatus genießen, kämpfen weniger prominente Vertreter noch immer ums Überleben. Das Münchner Strafjustizzentrum gehört zu jenen Grenzfällen, bei denen sich entscheidet, ob unsere Gesellschaft bereit ist, auch die unbequemen Zeugen ihrer Baugeschichte zu bewahren.
Die Demokratie des Betons
Was viele Kritikerinnen und Kritiker übersehen: Der Brutalismus war in seiner Entstehungszeit ein zutiefst demokratisches Projekt. Die massiven Betonbauten entstanden nicht aus Größenwahn, sondern aus dem Wunsch, qualitätvolle öffentliche Räume für alle zu schaffen. Universitäten, Rathäuser, Kulturzentren – der Brutalismus baute für die Gemeinschaft, nicht für private Investoren.
Das Münchner Strafjustizzentrum verkörpert diese Philosophie auf eigenwillige Weise. Seine monumentale Erscheinung sollte die Bedeutung des Rechtsstaats unterstreichen, seine offenen Innenhöfe demokratische Transparenz symbolisieren. Dass diese Symbolik heute vielen fremd erscheint, sagt mehr über unsere Zeit aus als über die Architektur.
Nachhaltigkeit in Beton gegossen
Die aktuelle Klimadebatte verleiht der Brutalismus-Diskussion eine neue Dimension. Während überall von Nachhaltigkeit gesprochen wird, sollen intakte Betonbauten abgerissen werden – eine ökologische Absurdität. Die graue Energie, die in diesen Strukturen steckt, ist immens. Ein Abriss des Münchner Strafjustizzentrums würde nicht nur architektonisches Erbe vernichten, sondern auch Tonnen von CO2 freisetzen.
Stattdessen sollten wir lernen, mit dem Bestand zu arbeiten. Brutalistische Bauten sind robust konstruiert und lassen sich hervorragend umnutzen. Das Londoner Southbank Centre oder die Tate Modern zeigen, wie erfolgreich solche Transformationen sein können. Warum nicht auch das Strafjustizzentrum neu denken? Als Kulturzentrum, als Start-up-Campus, als vertikale Stadt?
Die Ästhetik des Widerstands
Die neue Begeisterung für den Brutalismus ist auch eine Form des ästhetischen Widerstands. In einer Zeit, in der Architektur zunehmend stromlinienförmig und marktkonform wird, steht der Brutalismus für Eigensinn und Charakterstärke. Diese Gebäude lassen sich nicht ignorieren, sie fordern Auseinandersetzung.
Besonders die junge Generation der Architektinnen und Architekten entdeckt im Brutalismus Qualitäten, die in der zeitgenössischen Architektur verloren gegangen sind: skulpturale Kraft, materieller Ausdruck, räumliche Komplexität. Nicht umsonst boomen Bücher über brutalistische Architektur, und Ausstellungen zum Thema ziehen Besucherscharen an.
Ein Plädoyer für Differenzierung
In vielen Jahren der Auseinandersetzung mit Architektur habe ich gelernt: Nicht jedes Gebäude muss gefallen, aber jedes verdient eine faire Bewertung. Der Brutalismus polarisiert, und das ist gut so. Architektur soll nicht nur dekorieren, sondern auch provozieren, zum Nachdenken anregen, Position beziehen.
Das Münchner Strafjustizzentrum mag keine Schönheit im klassischen Sinne sein. Aber es ist ein authentisches Dokument seiner Zeit, ein mutiges architektonisches Statement und ein nachhaltiger Baukörper. Sein Abriss wäre nicht nur ein Verlust für München, sondern ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit architektonischem Erbe.
Die Brutalismus-Renaissance zeigt: Schönheit liegt im Auge des Betrachters, und dieses Auge verändert sich mit der Zeit. Was heute als hässlich gilt, kann morgen als Meisterwerk gefeiert werden. Geben wir dem Grau eine Chance – es könnte uns überraschen.

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