
Radome als Bildungslabor: Wie ein Studierendenwettbewerb die Architektinnen und Architekten von morgen prägt
Die Radome von Bad Aibling stehen wie stumme Zeugen einer vergangenen Epoche in der bayerischen Landschaft. Jahrzehntelang dienten diese geodätischen Kuppeln der Geheimhaltung und Überwachung. Nun werden sie zum Lerngegenstand für über 500 Architekturstudierende aus ganz Deutschland – ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel, der zeigt, wie moderne Architekturausbildung funktionieren kann.
Der von der Vereinigung freischaffender ArchitektInnen Deutschlands (VfA) ausgelobte Studierendenwettbewerb »echelon decrypted« geht weit über klassische Entwurfsaufgaben hinaus. Er konfrontiert angehende Architektinnen und Planer mit der komplexen Aufgabe, ein belastetes Erbe in zukunftsfähige Räume zu transformieren. Diese Form der problembasierten Lehre, die reale gesellschaftliche Herausforderungen ins Zentrum stellt, markiert einen Wendepunkt in der Architekturausbildung.
Interdisziplinäres Lernen als Grundprinzip
Die Aufgabenstellung des Wettbewerbs spiegelt die Komplexität zeitgenössischer Planungsprozesse wider. Studierende der Architektur arbeiten hier nicht isoliert, sondern der Wettbewerb öffnet sich bewusst für Stadtplanerinnen und Landschaftsarchitekten, für Innenarchitektinnen und verwandte Disziplinen. Diese interdisziplinäre Ausrichtung entspricht dem, was führende Architekturschulen seit Jahren fordern: die Überwindung von Fachgrenzen bereits in der Ausbildung.
Besonders innovativ zeigt sich der pädagogische Ansatz in der dreistufigen Aufgabenstruktur. Die Teilnehmenden müssen gleichzeitig auf der Ebene des Objekts (Umnutzung der Radome), der Gestaltung (Transformation der Hüllen) und des städtebaulichen Kontexts (Integration ins Gelände) denken. Diese Verschränkung verschiedener Maßstäbe trainiert genau jene Kompetenz, die in der späteren Berufspraxis entscheidend ist: systemisches Denken.
Digitale Bildungspartnerschaften und neue Vermittlungsformen
Die Betreuung durch das Berliner Architekturbüro thoma architekten etabliert eine neue Form der Praxis-Hochschul-Kooperation. Statt theoretischer Luftschlösser erarbeiten Studierende Konzepte unter der Anleitung erfahrener Praktikerinnen und Praktiker. Die digitale Einreichung über die Plattform competitionline schult zudem den Umgang mit professionellen Wettbewerbstools – eine Kompetenz, die in vielen Curricula noch immer zu kurz kommt.
Die Jury, besetzt mit renommierten Namen wie Alexander Schwab und Prof. Ariane Waegner, fungiert nicht nur als Bewertungsgremium, sondern als Mentorinnen- und Mentorennetzwerk. Ihre Expertise fließt in die öffentliche Ausstellung und Publikation der besten Arbeiten ein – ein Format, das Lernen sichtbar macht und den Dialog zwischen Nachwuchs und Etablierten fördert.
Buckminster Fuller als pädagogisches Vorbild
Der Verweis auf Buckminster Fuller in der Auslobung ist mehr als eine historische Referenz. Fuller, selbst ein radikaler Pädagoge und Querdenker, entwickelte in den 1950er-Jahren nicht nur geodätische Kuppeln, sondern auch revolutionäre Lehrkonzepte. Seine »World Game Workshops« waren frühe Beispiele für erfahrungsbasiertes Lernen, bei dem Studierende globale Probleme durch Design lösen sollten.
Der Wettbewerb greift diese Tradition auf und aktualisiert sie für das 21. Jahrhundert. Die Studierenden sollen nicht nur entwerfen, sondern gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Die Transformation von Überwachungsarchitektur in offene, demokratische Räume wird zur Bildungsmetapher: Aus passiven Konsumentinnen und Konsumenten von Wissen werden aktive Gestalterinnen und Gestalter von Zukunft.
Nachhaltigkeit als Bildungsauftrag
Die explizite Forderung nach Kreislaufwirtschaft, Energieautarkie und sozialer Nachhaltigkeit in der Auslobung macht den Wettbewerb zu einem Lehrstück für zukunftsfähiges Bauen. Studierende lernen, dass Nachhaltigkeit keine nachträgliche Ergänzung, sondern integraler Bestandteil jeder Planung sein muss. Diese Haltung zu vermitteln, gehört zu den wichtigsten Aufgaben zeitgemäßer Architekturausbildung.
Die 6.000 Euro Preisgeld mögen bescheiden erscheinen, doch der eigentliche Wert liegt in der Lernerfahrung. Die zweijährige VfA-Mitgliedschaft und das Abonnement der »db deutsche bauzeitung« für alle wertbaren Beiträge zeigen: Hier geht es um langfristige Nachwuchsförderung, nicht um kurzfristige Belohnung.
Kritische Reflexion und Ausblick
Bei aller Begeisterung für innovative Lehrformate darf die kritische Perspektive nicht fehlen. Der Wettbewerb reproduziert auch problematische Aspekte der Architekturausbildung: die Fokussierung auf spektakuläre Einzelobjekte statt alltäglicher Bauaufgaben, die Gefahr der Selbstausbeutung durch unbezahlte Wettbewerbsarbeit, die Selektion durch kompetitive statt kooperative Formate.
Dennoch überwiegen die positiven Bildungsimpulse. Der Wettbewerb zeigt, wie Architekturausbildung aussehen kann, wenn sie gesellschaftliche Relevanz ernst nimmt. Die Transformation der Radome wird zur Metapher für die Transformation der Disziplin selbst: von der abgeschirmten Expertenkultur zur offenen, partizipativen Praxis.
Ein Modell mit Zukunft
»echelon decrypted« könnte Schule machen. Die Verbindung von historischer Auseinandersetzung, zeitgenössischer Entwurfspraxis und zukunftsorientierter Nachhaltigkeit schafft ein Lernumfeld, das weit über traditionelle Studioarbeit hinausgeht. Wenn aus einem Ort der Kontrolle ein Raum für Möglichkeiten wird, dann gilt das nicht nur für die Radome von Bad Aibling, sondern auch für die Architekturausbildung selbst.
Die Abgabefrist am 15. September 2025 gibt den Studierenden ausreichend Zeit für eine fundierte Auseinandersetzung. Diese zeitliche Großzügigkeit unterscheidet den Wettbewerb wohltuend von der üblichen Hektik akademischer Semesterprojekte. Lernen braucht Zeit – auch das eine wichtige bildungspolitische Botschaft.
Der Wettbewerb zeigt: Die nächste Generation von Architektinnen und Architekten ist bereit, sich den komplexen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Sie braucht nur die richtigen Bildungsformate, um ihr Potenzial zu entfalten. »echelon decrypted« ist ein vielversprechender Schritt in diese Richtung.
Teilnahme:
https://survey.competitionline.com/c/VFA-Studierendenwettbewerb2025

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