
Zwischen Patina und Poesie
Das Hôtel de la Paix in Lomé trägt seine Wunden wie Narben eines vergessenen Krieges. Die Farbe blättert von den Wänden wie alte Haut, die Fenster starren leer in die tropische Sonne, und wo sich einst die Elite Westafrikas in den 1970er Jahren traf, herrscht heute gespenstische Stille. Daniel Chenuts Meisterwerk von 1974 ist zum Symbol einer ganzen Epoche geworden – einer Zeit, als der Phosphathandel florierte und die jungen Nationen Westafrikas ihre architektonische Identität in Beton gossen.
Doch in diesem scheinbaren Verfall liegt eine unerwartete Schönheit. Mariam Issoufou Kamara, Gründerin des atelier masōmī in Niger, sieht in diesen verfallenden Monumenten keine Ruinen, sondern eine “erstaunliche Leinwand” für Afrikas zweite Unabhängigkeit. Die Architektin, deren Büros von Niamey über New York bis Zürich reichen, spricht von einer architektonischen Revolution, die nicht aus dem Nichts entsteht, sondern aus dem Dialog mit dem Bestehenden.
Die Alchemie der Transformation
Die neue Generation westafrikanischer Architektinnen und Architekten betreibt eine Art architektonische Alchemie. Sie verwandeln Beton in Poesie, Verfall in Versprechen. Dominique Petit-Frère, Mitgründerin von Limbo Accra, nennt diese unvollendeten Betonskelette “concrete skeletons” – und macht aus ihnen offene Kunstgalerien. Ihre Philosophie: Die Stadt befindet sich im Limbo zwischen Moderne und Tradition, und genau in diesem Zwischenraum entsteht etwas radikal Neues.
Diese Herangehensweise ist mehr als nur Denkmalpflege. Es ist eine emotionale Archäologie, die Schicht für Schicht die Seele dieser Gebäude freilegt. Olayinka Dosekun-Adjei von Studio Contra in Lagos webt lokales Handwerk – Adire-Textilien, geschnitztes Holz – in moderne Grundrisse ein. Sie schafft Räume, die nicht nur funktionieren, sondern vibrieren, die Lagos’ frenetische Energie von über 20 Millionen Menschen in sich aufnehmen und wieder ausstrahlen.
Material als Metapher
Die Materialität dieser Rettungsaktionen ist von berauschender Sinnlichkeit. Lehm trifft auf Beton, traditionelle Bautechniken verschmelzen mit brutalistischer Formensprache. Aziza Chaouni, die marokkanische Visionärin hinter Aziza Chaouni Projects, spricht von einer “nachhaltigen Innovation durch kulturelle Bewahrung”. In ihren Projekten wird der raue Beton der Moderne mit den warmen Erdtönen traditioneller Materialien versöhnt.
Diese Materialsprache ist keine nostalgische Geste, sondern eine zukunftsweisende Vision. Die Architektinnen verstehen, dass die thermische Masse des Betons in Kombination mit traditionellen Klimatisierungskonzepten eine Antwort auf die drängenden Fragen der Nachhaltigkeit bietet. Die dicken Wände des Hôtel de la Paix waren nie nur Struktur – sie waren klimatische Skulpturen, die die sengende Hitze Togos in kühle Innenräume verwandelten.
Kulturelle Resonanzen
Die Rettung dieser Gebäude ist auch eine Rettung kollektiver Erinnerungen. Lesley Lokko, die ghanaisch-schottische Kuratorin der Architekturbiennale Venedig 2023, sieht in der westafrikanischen Moderne einen “kulturellen Reichtum”, der lange übersehen wurde. Die Gebäude sind Zeitzeugen einer Ära des Optimismus, als die jungen Nationen ihre Zukunft in Beton modellierten.
Doch diese Geschichte wird nicht einfach konserviert – sie wird neu geschrieben. Die Architektinnen interpretieren die brutalistische Formensprache durch eine afrikanische Linse neu. Das BOAD-Gebäude in Lomé, inspiriert von den traditionellen Tata-Tamberma-Lehmarchitekturen Nordtogos, zeigt, wie moderne und traditionelle Formensprachen verschmelzen können. Es ist eine Architektur, die ihre Wurzeln kennt, aber keine Angst vor der Zukunft hat.
Die Ästhetik des Unfertigen
Es gibt eine besondere Poesie in diesen halbfertigen, verlassenen Strukturen. Sie sind wie architektonische Haikus – unvollendet, aber gerade dadurch voller Möglichkeiten. Nadia Tromp aus Südafrika, erste afrikanische Architektin mit einem World Architecture Festival Award, sieht in dieser Unvollständigkeit eine Einladung zum Dialog. Ihre Westbury-Klinik zeigt, wie soziale Architektur aus den Fragmenten der Vergangenheit entstehen kann.
Diese Ästhetik des Unfertigen ist radikal zeitgenössisch. In einer Welt, die von perfekten Renderings und digitaler Glätte dominiert wird, bieten diese Gebäude eine haptische, sinnliche Alternative. Man kann die Hitze in den Wänden spüren, die Zeit in den Rissen lesen, die Geschichten in den Schatten erahnen.
Licht als Protagonist
In der westafrikanischen Architekturrettung spielt das Licht eine Hauptrolle. Die brutalen Betonformen werden zu Lichtfängern, zu Schattenspendern, zu Bühnen für das dramatische Spiel der Tropensonne. Die perforierten Fassaden, die Brise-Soleils, die tiefen Loggien – all diese Elemente werden von den Architektinnen nicht als funktionale Notwendigkeiten, sondern als poetische Instrumente verstanden.
May al-Ibrashy, ägyptische Konservierungsarchitektin, spricht von einer “Demokratisierung” dieser architektonischen Lichtspiele. In ihren Projekten werden die monumentalen Gesten der Moderne in menschliche Maßstäbe übersetzt, ohne ihre dramatische Wirkung zu verlieren.
Eine neue afrikanische Moderne
Was hier entsteht, ist keine Restaurierung im klassischen Sinne, sondern eine Neuerfindung. Die Architektinnen retten nicht nur Gebäude – sie retten eine Idee von Moderne, die spezifisch afrikanisch ist. Eine Moderne, die nicht importiert, sondern gewachsen ist, die ihre eigene Sprache gefunden hat.
Diese Bewegung hat globale Relevanz. In einer Zeit, in der die Welt nach nachhaltigen Bauweisen sucht, bieten diese hybriden Ansätze Lösungen, die über Westafrika hinausweisen. Die Verbindung von thermischer Masse und natürlicher Ventilation, von lokalen Materialien und universellen Formen, von kultureller Identität und globaler Moderne – all das sind Lehren, die die Architektinnen Westafrikas der Welt anzubieten haben.
Die Rettung des Hôtel de la Paix und seiner Geschwisterbauten ist mehr als Denkmalpflege. Es ist ein Akt der Selbstermächtigung, eine architektonische Dekolonisierung, die nicht zerstört, sondern transformiert. In den Händen dieser visionären Architektinnen werden die verlassenen Betonriesen zu dem, was sie immer sein sollten: Monumente der Hoffnung, Kathedralen der Möglichkeit, Paläste für eine Zukunft, die ihre Vergangenheit ehrt.

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