
Ein Turm sucht seine Bestimmung
Der 46 Meter hohe Bierpinsel am U-Bahnhof Schlossstraße gehört zu Berlins markantesten Bauwerken der Spätmoderne. Das technoide Turmgebäude, entworfen vom Architektenpaar Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler, prägt seit fast fünf Jahrzehnten die Silhouette Steglitz-Zehlendorfs. Die jüngste Besetzung durch Aktivistinnen und Aktivisten wirft erneut die Frage auf: Wie geht Berlin mit seinen architektonischen Ikonen um?
Die Forderung ‚Bierpinsel für alle’ trifft den Nerv einer Stadtgesellschaft, die zunehmend um bezahlbare Räume und öffentliche Orte ringt. Der Turm steht exemplarisch für eine spezifisch Berliner Problematik: prominente Leerstände bei gleichzeitigem Raummangel. Während andere Metropolen ihre modernistischen Wahrzeichen längst revitalisiert haben, verharrt der Bierpinsel seit 2002 in einer Art Dornröschenschlaf.
Berliner Baugeschichte in Beton
Die Entstehungsgeschichte des Bierpinsels liest sich wie ein typisch Berliner Baubericht: ambitioniert gestartet, von Komplikationen durchzogen, letztlich doch realisiert. Bereits während der Bauphase sprangen zwei Investoren ab – ein Vorgang, der in der heutigen Hauptstadtentwicklung fast prophetisch wirkt. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft BEWOGE musste einspringen, um das Projekt zu retten. 27 elf Meter tiefe Betonpfähle und eine drei Meter dicke Fundamentplatte zeugen noch heute vom konstruktiven Aufwand, der für diesen expressiven Bau betrieben wurde.
Die Architektin und der Architekt schufen mit dem Bierpinsel ein Werk, das die West-Berliner Stadtlandschaft der 1970er Jahre perfekt verkörpert: selbstbewusst, experimentell und an verkehrstechnischen Knotenpunkten positioniert. Die Lage am Kreuzungspunkt zweier U-Bahnlinien war programmatisch – hier sollte urbanes Leben pulsieren. Dass die ursprünglich geplante gastronomische Nutzung nie dauerhaft funktionierte, macht den Bau zu einem melancholischen Monument gescheiterter Urbanitätsvisionen.
Denkmalschutz als Chance und Hindernis
Der denkmalgeschützte Status des Bierpinsels spiegelt eine klassische Berliner Paradoxie wider: Einerseits würdigt er die architektonische Bedeutung, andererseits erschwert er pragmatische Nutzungskonzepte. Der aktuelle Eigentümer, seit 2021 im Besitz des Turms, argumentiert mit den Auflagen von Denkmal- und Brandschutz, die einer Revitalisierung im Wege stünden. Diese Argumentation ist in Berlin wohlbekannt – sie begleitet nahezu jedes größere Sanierungsvorhaben der Stadt.
Die Berliner Denkmalpflege steht dabei vor der Herausforderung, zwischen Bewahrung und Entwicklung zu vermitteln. Während in München oder Hamburg ähnliche Objekte oft mit erheblichen öffentlichen Mitteln saniert werden, fehlt in Berlin häufig sowohl das Geld als auch der politische Wille für solche Großprojekte. Die Folge: jahrzehntelange Leerstände, die zu städtebaulichen Wunden werden.
Steglitz-Zehlendorf: Zwischen Tradition und Transformation
Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf verkörpert wie kaum ein anderer die Widersprüche Berlins. Einerseits gilt er als bürgerlich-konservativ, andererseits beherbergt er mit dem Bierpinsel eines der radikalsten Architekturexperimente der Stadt. Die Forderung nach einer gemeinschaftlichen Nutzung trifft hier auf eine Bevölkerung, die durchaus offen für kulturelle Experimente ist – sofern sie geordnet ablaufen.
Die lokale Situation am Standort ist symptomatisch für viele Berliner Kieze: Die Schlossstraße als traditionelle Einkaufsmeile kämpft mit Leerständen und Bedeutungsverlust, gleichzeitig fehlen bezahlbare Wohnungen und niedrigschwellige Kulturangebote. Der Bierpinsel könnte hier als Katalysator wirken – vorausgesetzt, es gelingt, die verschiedenen Interessengruppen zusammenzubringen. Die Bezirkspolitik steht vor der Aufgabe, zwischen Investoreninteressen, Denkmalschutz und zivilgesellschaftlichen Forderungen zu vermitteln.
Berliner Modell für kreative Zwischennutzung?
Berlin hat in der Vergangenheit bewiesen, dass kreative Zwischennutzungen funktionieren können. Vom RAW-Gelände bis zum Holzmarkt haben temporäre Projekte oft den Weg für dauerhafte Lösungen geebnet. Der Bierpinsel böte sich geradezu an für ein solches Experiment. Die robuste Betonkonstruktion könnte verschiedenste Nutzungen aufnehmen: von Ateliers über Co-Working-Spaces bis zu soziokulturellen Zentren.
Die Aktivistinnen und Aktivisten haben mit ihrer Aktion einen wichtigen Impuls gesetzt. Ihre Vision eines ‚Bierpinsels für alle’ knüpft an die beste Berliner Tradition der Aneignung und Transformation von Stadträumen an. Gleichzeitig müssen solche Konzepte heute auch wirtschaftlich tragfähig sein – eine Herausforderung, die in Zeiten knapper öffentlicher Kassen nicht unterschätzt werden darf.
Ausblick: Ein Testfall für Berlins Umgang mit der Moderne
Der Bierpinsel ist mehr als nur ein leerstehendes Gebäude – er ist ein Testfall für Berlins Umgang mit seinem architektonischen Erbe der Nachkriegsmoderne. Die Stadt muss zeigen, ob sie in der Lage ist, solche Ikonen nicht nur zu bewahren, sondern auch mit neuem Leben zu füllen. Die tomatenrote Eternitverkleidung mag verblichen sein, ersetzt durch poppige Graffiti, die ebenfalls schon wieder verblassen – doch die Substanz des Bauwerks ist intakt.
Was es braucht, ist eine spezifisch Berliner Lösung: pragmatisch und visionär zugleich, mit Raum für Experimente und dennoch verlässlich finanziert. Die Landesbauordnung Berlin bietet durchaus Spielräume für innovative Nutzungskonzepte, die es zu nutzen gilt. Der Bierpinsel könnte zum Modellprojekt werden für eine neue Form der Stadtentwicklung, die Denkmalschutz, soziale Bedürfnisse und wirtschaftliche Realitäten zusammendenkt.
Die Diskussion um den Bierpinsel zeigt: Berlin muss endlich eine Strategie für seine zahlreichen Leerstandsikonen entwickeln. Andere Städte wie Leipzig oder Dresden haben vorgemacht, wie aus problematischen Erbschaften lebendige Orte werden können. Es wäre an der Zeit, dass auch die Hauptstadt ihre spezifischen Potenziale nutzt – und der Bierpinsel könnte der Anfang sein.

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