
Rheinisches Revier im Umbau: Vom Tagebau zur Zukunftsregion
Strukturwandel, Wasserwende und Planungskultur in Nordrhein-Westfalen
Wo Schaufelradbagger jahrzehntelang den Takt vorgaben, verhandeln heute Planungen Zukunft: Das Rheinische Revier wandelt 300 km² Braunkohlelager zu Arbeitsorten, Seenlandschaften und Dörfern mit neuer
Region und Ausgangslage
Zwischen Aachen, Mönchengladbach und Köln liegt das Rheinische Revier – Europas größtes Braunkohlerevier. In Nordrhein‑Westfalen wurden allein für den Abbau rund 300 Quadratkilometer in Anspruch genommen; aktiv sind die Tagebaue Garzweiler, Hambach und Inden. Bis 2030 endet der Abbau, kurz darauf die Verstromung – eine Zäsur mit gewaltigem planerischem Hebel.
Politische Rahmung und Eigentumslage
Die Flächen gehören der RWE‑Tochter RWE Power. Mit der grün‑schwarzen Landesregierung einigte sich der Konzern auf ein vorgezogenes Ende bis 2030; im Gegenzug steht eine Entschädigung in Milliardenhöhe im Raum. Der Umbau wird von Bund und Land mit knapp 15 Milliarden Euro flankiert – laut Zukunftsagentur Rheinisches Revier fehlt weniger Geld als vielmehr Zeit und personelle Kapazität für die Planung.
Governance: PSW als Taktgeber
Für die Koordination wurde die Gesellschaft Perspektive Strukturwandel (PSW) gegründet – ein Joint Venture von Land und RWE. PSW unterstützt insbesondere kleinere Gemeinden bei Bauleitplanung, Gutachten und Verfahren und bündelt Projekte an ehemaligen Kraftwerks‑ und Tagebaustandorten. Das Ziel ist doppelt: neue Wertschöpfung und die Vermeidung zusätzlicher Flächenversiegelung durch vorrangige Konversion.
Projektfelder: Von Neurath bis Hambach
In Neurath liegt ein rund 180 Hektar großes Kraftwerksareal auf dem Tisch. Gemeinsam mit dem Kölner Büro Astoc entstand 2024 ein Strukturkonzept, das eine industrielle und gewerbliche Nachnutzung vorsieht; die Kommunen Grevenbroich und Rommerskirchen müssen die Planungen konkretisieren. Die Kraftwerksstilllegung ist für 2033 vorgesehen. Parallel entsteht am Tagebau Hambach auf einer »Pionierfläche« ein Zukunftsareal von etwa 120 Hektar: Die Gemeinde Niederzier übernimmt die Bauleitplanung, RWE bringt Flächen ein und beauftragt Fachplanungen. Angestrebt sind frühzeitige, vor‑2030 verfügbare Industrie‑ und Gewerbeflächen mit guter Anbindung an die Autobahnen A4/A44 und die RWE‑Werksbahn.
Standortfaktoren und Marktlogik
Die Nähe zur künftigen Seelandschaft, die bestehende Infrastruktur und der Anspruch an energieintensive Nutzerinnen und Nutzer (Produktion, Logistik, Dienstleistungen) schaffen einen eigenständigen Standorttypus: leistungsfähige Netze plus Landschaftsqualität. Erste Ansiedlungen sind ab 2027 ins Auge gefasst – ein ehrgeiziger, aber marktkompatibler Zeithorizont, sofern Bauleitplanung, Erschließung und artenschutzrechtliche Verfahren im Takt bleiben.
Die Wasserfrage: Vom Restloch zum See
Nach dem Abschalten der Sümpfungsanlagen füllen sich die Gruben durch Grundwasser und Niederschlag – allerdings über Jahrhunderte. Um nutzbare Uferzonen und stabile Böschungen früher zu erreichen, sollen die Restlöcher künstlich befüllt werden: Wasser aus dem Rhein für Garzweiler und Hambach, aus der Rur für Inden. Hambach wäre mit bis zu 350 Metern Tiefe und etwa drei Milliarden Kubikmetern Volumen das tiefste Gewässer Deutschlands; die Befüllung ab 2030 ist auf etwa 40 Jahre angelegt. Umweltverbände warnen vor ökologischen Risiken der Wasserentnahme und fordern eine Aufbereitung des Rheinwassers; aufsichtsrechtliche Entscheidungen stehen aus.
Dörfer mit Zukunft: Erkelenz und die fünf Orte
Durch das frühere Aus des Tagebaus bleiben Berverath, Keyenberg, Kuckum sowie Ober‑ und Unterwestrich erhalten. PSW und die Stadt Erkelenz treiben eine Revitalisierung voran: Bestandsaufnahme, Reparatur, maßvolle Nachverdichtung. Leitlinien sind klimaschonendes Bauen, flächensparende Entwicklung und ein Gemeinschaftsleben, das die Nähe zum künftigen Garzweiler‑See als Qualität begreift.
Weitere Konversionsbausteine
Auch am Kraftwerk Niederaußem und an der Brikettfabrik Wachtberg in Frechen laufen Prozesse. Übergreifend kombiniert die Region raumordnerische Strategien – von Klimaanpassung und Mobilität bis zum Tourismus – mit einem »Gigawattpakt« mehrerer Kommunen zur beschleunigten Erzeugung erneuerbarer Energien.
Planungskultur und Verfahren
Die Verfahren verlangen robuste Bauleitplanung, frühzeitige Umweltprüfungen und eine Kommunikation, die Bewohnerinnen und Bewohner beteiligt, ohne falsche Versprechungen. Für die Praxis zählt ein Dreiklang: belastbare Zeitschienen, abgestufte Erschließung (Pionierflächen zuerst) und adaptive Masterpläne, die Raum für unbekannte Nutzerprofile lassen. Wo früher Schaufelradbagger im Takt liefen, zählt nun die Synchronisierung von Fachgutachten, Förderlogik und Markttaktung – eine andere, aber nicht minder anspruchsvolle Choreografie.
Vergabe und Kapazitäten
Die anstehenden Leistungen treffen auf einen angespannten Planungsmarkt. Nordrhein‑Westfalen reformiert ab 2026 die kommunale Vergabe für kleinere Aufträge – ein Baustein, um Prozesse zu beschleunigen und die lokale Wirtschaft einzubinden. Gleichzeitig bleibt die Bündelung von Aufträgen über PSW sinnvoll, wenn Gemeinden personell unterbesetzt sind.
Chancen, Risiken, Transfer
Das Rheinische Revier besitzt Modellcharakter: großmaßstäbliche Konversion, Wasser‑ und Energieinfrastrukturen als Entwicklungshebel, Revitalisierung ländlicher Siedlungen und eine neue Industrie‑Landschafts‑Symbiose. Risiken liegen in langen Zeithorizonten (Seebefüllung), ökologischen Zielkonflikten (Gewässerökologie) und Kapazitätsengpässen. Werden Lernschleifen konsequent genutzt, dürfte die Region zeigen, dass Strukturwandel mehr ist als ein Förderprogramm – nämlich eine Gestaltungsschule.

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