Baukunst - Überseeinsel unter Druck – Bremens Wettstreit um das bessere Wohnen im Alter
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Überseeinsel unter Druck – Bremens Wettstreit um das bessere Wohnen im Alter

24.10.2025
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Ignatz Wrobel

Ausgangslage: Ein Hafenareal wird zum Quartier

Die Transformation der Landzunge zwischen Weser und Europahafen – der Überseeinsel in der Bremer Überseestadt – prägt seit Jahren die städtebauliche Agenda. Das Gelände der ehemaligen Rickmers Reismühle markiert den westlichen Abschluss des belebten Entwicklungsbands. Als Ensemble aus Bestandsbauten und neuen Punktgebäuden soll hier ein gemischt genutztes Quartier entstehen, dessen Schwerpunkt ausdrücklich auf altengerechtem Wohnen liegt. Die Lage ist prominent: unmittelbar an der Weser, vorgelagert zur künftigen Hochwasserschutzlinie und in spannungsreicher Nachbarschaft von Molenspitze und Landschaftspark. Die Topografie des Ortes – Wasserlage, Wind, Weite – ist kein Beiwerk, sondern die eigentliche Figurgeberin für Baukörperstellung, Erdgeschossnutzungen und Freiraum.

Verfahren und Akteure: Disziplin schafft Spielräume

Die Ausloberin ParkQuartier Weserinsel GmbH wählte ein Einladungswettbewerb nach RPW. 13 Büros traten an, betreut von BPW Stadtplanung, am Ende entschied ein prominent besetztes Preisgericht. Dass Bremen bei solchen Vorhaben auf geordnete Verfahren setzt, hat Tradition und erzeugt Verlässlichkeit für Bauherrinnen und Bauherren ebenso wie für Planerinnen und Planer. Die Entscheidung fiel im September 2025; der Wettbewerb qualifizierte zwei Gebäudetypologien als Referenz, ohne die städtebaulichen Setzungen grundsätzlich wieder zu öffnen. So entsteht ein klarer Rahmen – und darin genügend Luft für architektonische Differenzierung.

Typologien und Maßstab: Vier Daltons, zwei Bestände

Das Bild des künftigen Ensembles tragen vier unterschiedlich hohe Punktbauten – in der lokalen Debatte schon als „Daltons“ bezeichnet – mit sechs bis elf Geschossen. Sie erhalten Begleitung durch zwei Bestandsgebäude: den langgestreckten Uferriegel und das kleine Torgebäude. Diese Konstellation schreibt Hafenerbe fort, ohne in Nostalgie zu verfallen. Die Punkthäuser werden in zwei Erschließungstypen entwickelt: einmal mit Zugang an der Längsseite, einmal an der kurzen Seite. Diese Differenzierung wirkt klein, eröffnet in Grundrissen und Fassade jedoch einen beachtlichen Spielraum. Der zulässige Umfang ist klar definiert: Die oberirdische Bruttogeschossfläche der vier Punkthäuser beträgt zusammen bis zu 33.000 m² (BGF R) – ergänzt um einen begrenzten Anteil BGF S für Sonderfälle. Der Maßstab bleibt somit beherrschbar und anschlussfähig an die Körnung der Überseestadt.

Programm: Erdgeschosse als Quartiersmotor

Wohnen im Alter wird zum Anker, doch lebendig wird das Quartier erst durch die Erdgeschosse. Gastronomische Angebote, Tagespflege, eine KiTa und nutzungsnahe Dienstleistungen sind vorgesehen. Diese Mischung stabilisiert Frequenzen und hält Wege kurz – ein handfestes Argument für Bewohnerinnen und Bewohner, die Komfort schätzen und Teilhabe suchen. Das Erdgeschoss reagiert zudem auf die Wasserlage: Transparenz, robuste Materialien und klare Adressen stärken das öffentliche Leben am Ufer.

Regionale Planungskultur: Bremen und der Dialog am Wasser

Bremen kultiviert seit Jahren eine Planungspraxis, die Hafenentwicklung, Hochwasserschutz und Freiraum im Dialog denkt. Die Lage „vor“ der künftigen Schutzlinie verschärft die Anforderungen: Erschließung, Geländemodellierung und Fassaden müssen auf Starkregen und Sturmfluten reagieren. Eine robuste Erdgeschosszone ist hier weniger Ästhetik als Notwendigkeit. Für die Bremer Baupraxis typisch ist der Anspruch, solche funktionalen Imperative mit Aufenthaltsqualität zu verknüpfen – pragmatisch, zurückhaltend, norddeutsch.

Flexibilität als Strategie: Gründe und Grundrisse

Zwischen Wettbewerbsentscheid und Baubeginn können sich Marktbedingungen ändern. Darauf reagiert das Konzept mit flexiblen Wohnungsgemengen, anpassbaren Wohnungsgrößen und modularen Zuschnitten. So bleibt die ökonomische Seite belastbar, ohne die sozialen Ziele aus dem Blick zu verlieren. Für altengerechtes Wohnen heißt das: barrierearme Erschließungen, nachrüstbare Assistenzsysteme, Cluster, die Nachbarschaft fördern und Privatsphäre respektieren. Die Punktbautypologie unterstützt diese Flexibilität, weil sie pro Geschoss vielfältige Kombinationen erlaubt.

Baukultur und Vielfalt: Mehrstimmigkeit statt Monolog

Bis zu vier Büros sollen jeweils einen der Daltons planen. Dieser Ansatz erzeugt Vielfalt innerhalb einer klaren Ordnung – eine Haltung, die in der Region Schule macht. Unterschiedliche Handschriften der Architektinnen und Architekten können die Silhouette beleben, während der Rahmenplan Kohärenz sichert. Die Überseeinsel profitiert davon, denn ihr Charakter speist sich aus industriellen Spuren, neuen Wohnformen und dem offenen Uferraum. Vielfalt wird nicht als dekorative Abweichung, sondern als sozialräumliche Qualität verstanden.

Nachhaltigkeit und Klimaanpassung: Der Fluss als Partner

Der Weserraum verlangt ressourcenschonende Lösungen: kompakte Baukörper, effiziente Hüllen, niedrige graue Emissionen und wartungsarme Details. Entscheidend ist die Schnittstelle zum Boden: Nutzungen im Sockel, die mit gelegentlichen Sperrungen leben können; Technik, die hochwassersicher untergebracht wird; Freiräume, die Regenwasser zurückhalten und sichtbar machen. Der Fluss wird damit zum Partner der Planung – nicht zum Gegner. Für den Alltag heißt das: robuste Erdgeschosse, klare Zugänge, gute Adressen und Schutz, wo nötig.

Kritische Punkte: Balanceakte im Detail

Der vorgegebene Rahmen minimiert Reibungsverluste, birgt aber die Gefahr eines zu engen Korsetts. Die Herausforderung liegt in der Ausgestaltung: Wie viel Variation verträgt der Typus, ohne die Einheitlichkeit des Quartiers zu sprengen? Wie lassen sich Erdgeschosse aktivieren, wenn Wetter, Wind und touristische Saisonalität schwanken? Und wie gelingt leistbarer Wohnraum, wenn Qualität, Lage und technische Anforderungen die Kosten treiben? Die Antworten liegen im klugen Detail: robuste Grundrisslogik, einfache Konstruktion, langlebige Materialien – und eine Freiraumplanung, die Nutzungsoffenheit ernst nimmt.

Einordnung: Modellcharakter über Bremen hinaus

Das Projekt an der Rickmers Reismühle formuliert Leitplanken für Wasserlagen in deutschen Hafenstädten: klare Verfahren, typologische Präzision und programmatische Erdgeschosse. Die Bremer Planungskultur zeigt, wie aus definierten Grenzen Gestaltungsspielräume entstehen. Für andere Regionen liefert das Vorhaben Anregungen, ohne Blaupause zu sein: Der Charakter des Ortes bleibt die erste Planungsressource.