Baukunst - Calatravas Glasturm-Drama: Wie Düsseldorf eine Weltarchitektur-Sensation verpasste
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Calatravas Glasturm-Drama: Wie Düsseldorf eine Weltarchitektur-Sensation verpasste

25.10.2025
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Claudia Grimm

Die Tuchtinsel-Saga als Spiegel regionaler Planungskulturen in Nordrhein-Westfalen

Was führt dazu, dass ein prominentes Innenstadtgrundstück einer bedeutenden deutschen Metropole jahrelang brach liegt? In Düsseldorf erzählt die Tuchtinsel diese Geschichte. Das Areal, eine sogenannte städtebaulich prägnante Lücke in der Düsseldorfer City, ist zum Testfall für die Spannungen zwischen Architekturambitionen, regulativen Zwängen und regionalpolitischen Realitäten in Nordrhein-Westfalen geworden. Der Fall offenbart tiefgreifende Fragen über Gestaltungsbeiräte, Länderbauordnungen und die Macht von Hochhausbeiräten in der deutschen Planungskultur.

Historische Identität und gegenwärtige Verwicklungen

Die Tuchtinsel – benannt nach der alteingesessenen Kaufmannsfamilie Tucht, die dort bis 1969 ein Fotogeschäft betrieb – ist mehr als nur drei zusammenhängende Grundstücke in zentraler Lage an der Schadowstraße. Sie ist ein Symbol für die Frage, wie zeitgenössische Stadtentwicklung mit historischer Kontinuität umgehen soll. Das Areal liegt wie eine Insel, von der Berliner Allee umschlossen, an einer prominenten Stelle der Düsseldorfer Innenstadt. Dass gerade dieser Ort so lange brachliegend ist, kann nicht als zufällig betrachtet werden.

Die komplizierte Eigentumsstruktur – mehrere Grundstücke in unterschiedlichem Besitz – hat die Entwicklung lange Zeit erschwert. Dies ist eine regionale Besonderheit Deutschlands, die sich fundamental auf Stadtplanung auswirkt. Während Kommunen in anderen Ländern land- oder stadtweit grundsätzlich größere Planungshoheit besitzen, scheitert deutsche Stadtentwicklung regelmäßig an fragmentierten Eigentumsstrukturen. Die Tuchtinsel ist ein Klassiker dieses Problems. Erst als der Entwickler Midstad ein weiteres Grundstück kaufte, kamen Bewegungen in die Sache.

Calatravas Glasturm: Der Wunsch nach ikonischer Architektur

Vor etwa fünf Jahren stellte der Projektentwickler Centrum einen ambitionierten Plan vor: ein 100 Meter hoher Glasturm des weltbekannten spanischen Star-Architekten Santiago Calatrava sollte auf der Tuchtinsel entstehen. Der Entwurf war elegant, technisch brillant und ikonisch – genau die Art von architektonischem Statement, das sich Städte wie Düsseldorf für ihre Innenstädte vorstellen. Ein Calatrava an der Düssel – das hätte der Stadt Wiedererkennungswert in einem globalisierten Architektur-Diskurs gegeben.

Aber es kam anders. Der Düsseldorfer Hochhausbeirat lehnte das Projekt ab. Das Gremium befand die Dimensionen des geplanten Gebäudes für unpassend – zu hoch, zu monumental für diesen Ort, zu wenig auf den städtebaulichen Kontext bezogen. Diese Entscheidung ist regional außerordentlich bedeutsam, denn sie zeigt: In Nordrhein-Westfalen und speziell in Düsseldorf hat nicht der Star-Architekt das letzte Wort, sondern ein lokales Beratungsgremium mit gestalterischen Befugnissen. Dies ist ein bemerkenswert defensives Planungsmodell.

Der Stadtrat folgte der Empfehlung des Hochhausbeirats und beschloss Ende 2020: Maximal 60 Meter dürfe ein Gebäude an diesem Standort werden. Damit war Calatravas 100-Meter-Turm endgültig vom Tisch. Dies ist nicht einfach eine Regulierung – es ist eine kulturelle Aussage. Düsseldorf sagt: Wir wollen nicht die Architektur des Spektakels, sondern Maß und Proportion. Dies kann man als weitsichtig bewerten oder als Ausdruck von fehlendem Mut.

Hochhausbeiräte: Macht und Begrenztheit von Gestaltung

Der Fall Tuchtinsel-Calatrava eröffnet einen ungewöhnlichen Blick auf die Rolle von Hochhausbeiräten in der deutschen Planungskultur. Diese Gremien – typischerweise mit Architekten, Stadtplanern, manchmal Bürgermeistern besetzt – sind in ihrer Macht durchaus beeindruckend. Sie können Projekte von Weltarchitekten zu Fall bringen. Das ist einerseits bewunderungswürdig: Es zeigt, dass Qualität und Maßstäblichkeit nicht automatisch dem Investorenwillen oder dem Stardiskurs untergeordnet werden.

Andererseits offenbaren sich hier auch Begrenztheit und Probleme. Der Hochhausbeirat als Institution ist nicht demokratisch legitimiert – seine Mitglieder werden berufen, nicht gewählt. Seine Entscheidungskriterien sind zwar fachlich fundiert, aber letztlich auch subjektiv. Was ist das richtige Maß für einen Ort? Die Antwort mag 60 Meter oder 100 Meter sein – sie ist kein objektiv messbarer Wert. In Düsseldorf hat sich eine Kultur etabliert, in der diese Gremien außerordentlich mächtig sind. Das mag für die Bewahrung einer städtebaulichen Qualität hilfreich sein, kann aber auch Lähmung bedeuten.

NRW-Bauordnung: Regelwerk und Auslegung

Die Bauordnung Nordrhein-Westfalens ist ein komplexes Regelwerk, das Regional- und Lokalkultur miteinander verflicht. Anders als in Ländern mit einheitlicher Baugesetzgebung sind in Nordrhein-Westfalen grundsätzlich die Städte und Gemeinden für viele Entscheidungen zuständig – unter Einhaltung landespolitischer Vorgaben. Dies führt zu heterogenen Planungskulturen zwischen dem Ruhrgebiet, Köln, Düsseldorf und ländlichen Räumen.

Im Fall der Tuchtinsel spielt auch die Frage der innerstädtischen Verdichtung eine Rolle. NRW versucht, sein Flächenverbrauchsproblem durch verstärkte Innenentwicklung zu adressieren. Das klingt progressiv – tatsächlich bedeutet dies: Innenstädte sollen intensiver genutzt werden, dichter bebaut. Die Tuchtinsel ist genau ein solcher Ort, der intensivere Nutzung erlaubt. Nur: Wie intensiv? 60 Meter oder 100 Meter – diese Differenz ist nicht marginal, sie hat erhebliche Auswirkungen auf Schattenwurf, Windeffekte, die Wahrnehmung des städtischen Raums.

Der Wettbewerb als Neuanfang: Partizipation und kooperative Verfahren

Der Entwickler Midstad kündigte an, die Tuchtinsel nun über einen städtebaulichen Wettbewerb zu entwickeln – geplant als einstufiges kooperatives Verfahren. Diesem Wettbewerb soll eine “Phase Null” vorgelagert werden, die Bürgerbeteiligung sowie den Einbezug verschiedener Fachplanender umfasst. Dies ist regional interessant, denn es signalisiert: Die reine Investorenlogik wird nicht ausreichen. Stadtentwicklung in Düsseldorf ist heute – anders vielleicht als in den 1980ern – ein partizipatives Verfahren.

Die “Phase Null” ist dabei ein wichtiges Konzept, das sich bundesweit immer mehr durchsetzt. Sie bedeutet: Bevor ein konkreter Entwurf entsteht, wird mit Anwohnerinnen und Fachleuten geklärt, was überhaupt erwünscht ist. Dies ist langwieriger als klassische Top-down-Planung, kann aber zu besseren Ergebnissen führen – und legitimiert die späteren Entscheidungen stärker.

Die Nachbarschaft: Kö-Bogen und städtebauliche Zusammenhänge

Interessanterweise war die Tuchtinsel auch in früheren Planungen präsent. Beim internationalen Wettbewerb Kö-Bogen II – einem anderen großen Düsseldorfer Innenstadtprojekt – sah der Siegerentwurf des Architekturbüros Molestina auch Neubauten auf der Tuchtinsel vor. Diese Idee wurde von der Stadt schließlich verworfen. Auch der Name des Architekten Christoph Ingenhoven fällt im Zusammenhang mit der Tuchtinsel immer wieder – Ingenhoven ist einer der prominentesten deutschen Architekten und hat in Düsseldorf mehrere bedeutende Projekte realisiert.

Dies zeigt: Die Tuchtinsel ist nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines größeren städtebaulichen Gefüges. Die Schadowstraße ist eine Einkaufsstraße, der Kö-Bogen ist ein neues Mixed-Use-Quartier, ringsum sind Büro- und Wohngebäude. Wie die Tuchtinsel sich in diesen Kontext einfügt, ist fundamental für die Qualität des Stadtzentrums.

Die Ökonomie der Lücke: Investorenwillen und städtische Regulierung

Dass ein Grundstück dieser Größe und an dieser Lage so lange brach liegen bleibt, ist auch eine ökonomische Frage. Der Investor Centrum ist mit seinem 100-Meter-Turm gescheitert. Für Midstad ist die Situation anders: Die neue Höhenbeschränkung auf 60 Meter ändert die ökonomische Kalkulation erheblich. Ein 60-Meter-Gebäude hat weniger Nutzfläche, weniger Mieterträge – aber ist es noch rentabel? Hier berührt sich regionale Architekturpolitik mit Immobilienökonomie.

Die Strategie Midstads, über einen Wettbewerb vorzugehen, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Renditevorgaben mit einem konventionellen Projekt nicht zu erreichen sind – ein Wettbewerb bietet die Möglichkeit, verborgene Kreativität zu mobilisieren, innovative Nutzungsmischungen zu entdecken, die Lücke nicht primär als Hochhausstandort zu denken.

Wider den Architektur-Determinismus: Was Düsseldorf lernen kann

Die Tuchtinsel-Saga ist lehrreich, weil sie zeigt, dass nicht immer die spektakulärste Architektur die beste ist. Ein Calatrava-Turm auf der Tuchtinsel hätte Düsseldorf möglicherweise in einem globalen Architektur-Ranking weitergebracht – und gleichzeitig eine städtebauliche Dissonanz erzeugt. Die Entscheidung des Hochhausbeirats, das Projekt zu kritisieren, war nicht bloß konservativ, sondern auch nachvollziehbar: Eine elegante, aber in diesem Kontext übergroße Geste.

Zugleich muss die Frage erlaubt sein: War es richtig, die Sache so lange liegen zu lassen? Die brachgefallenen Jahre sind auch ökonomisch und gesellschaftlich ein Verlust. Düsseldorf ist nicht wie Bremen oder andere Hafenstädte – es ist eine wohlhabende Handels- und Messestadt, die sich schnelle Lösungen leisten könnte. Dass sie stattdessen in einen längeren Diskurs über Maßstäbe verfällt, ist einerseits kultiviert, andererseits auch ein Luxusproblem.

Ausblick: Der kommende Wettbewerb und die Zukunft der Innenstadt

Mit Midstads angekündigtem Wettbewerb könnte die Tuchtinsel endlich bewegt werden. Ein einstufiges kooperatives Verfahren mit vorgelagerter Partizipation ist ein moderner Ansatz. Es erlaubt, von den Fehlern der Vergangenheit zu lernen: nicht mit einem Entwurf eines Stararchitekten zu beginnen, sondern mit der Frage: Was wollen wir hier wirklich?

Was die Tuchtinsel letztlich zeigt, ist, dass regionale Architekturkultur nicht nur von Stilen, Materialien und Formensprachen gehandelt wird, sondern von den institutionellen Strukturen, die Architektur ermöglichen oder hemmen. Hochhausbeiräte, Länderbauordnungen, Partizipationskulturen, Investorenziele – all diese Faktoren wirken zusammen. Düsseldorf hat sich dafür entschieden, auf Qualität und Maßstab zu pochen. Ob das gut ausgeht, werden die kommenden Jahre zeigen.