Baukunst - Gaza nach dem Krieg: Wie die Zerstörung kultureller Stätten die Gesellschaft spaltet
Kulturelles Erbe als Instrument sozialer Resilienz – Das Beispiel Gaza ©epositphotos_784098402_S

Gaza nach dem Krieg: Wie die Zerstörung kultureller Stätten die Gesellschaft spaltet

25.10.2025
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Ignatz Wrobel

Die Lücke zwischen Trümmern und Wiederaufbau

Der Gaza-Streifen ist ein Lehrbuch urbaner Verdichtung und gleichzeitig ein Mahnmal für die Infragilität zivilisatorischer Errungenschaften. Mit einer Fläche etwa halb so groß wie Hamburg und einer Bevölkerung von 2,2 Millionen Menschen ist es eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Diese räumliche Enge wird zur zentralen Problematik, wenn Wiederaufbau auf die Agenda rückt: Der Platz für Häuser, Schulen und Krankenhäuser kollidiert unvermeidlich mit dem Schutz archäologischer Stätten und historischer Gebäude.

Etwa 80 Prozent der Gebäude im Gaza-Streifen wurden beschädigt oder zerstört. Neben den unmittelbaren humanitären Notwendigkeiten wurden zwischen 226 und 316 kulturelle und historische Stätten durch direkte Bombardierung, Bulldozer-Abrisse oder Panzereinfahrten beschädigt – rund 55 bis 69 Prozent davon stark zerstört oder vernichtet. Dies ist kein Kollateralschaden, sondern folgt einem dokumentierten Muster: Die Zerstörung von Kulturstätten erschwert künftigen Generationen den Zugang zu ihrer Identität und ihrem Selbstverständnis als Gesellschaft.

Archäologie als Instrument sozialer Kontinuität

Archäologen und Kulturarbeitende – darunter spezialisierte Fachleute wie die Archäologin Leena Majed Yassin – verstehen ihre Arbeit längst nicht mehr als akademisches Hobby, sondern als Dienst an der gesellschaftlichen Zusammenhangskonstruktion. Wenn Yassin etwa erklärt, dass Wiederaufbau nicht nur ‘Stein und Zement’ bedeutet, sondern vor allem ‘den Menschen wieder aufbauen’, artikuliert sie einen zentralen urbanistischen Grundsatz: Städte sind mehr als Bauwerke – sie sind Träger von Bedeutung und Gedächtnis.

Der Gaza-Streifen zeugt von etwa 12.000 Jahren kontinuierlicher menschlicher Besiedlung, von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart. Diese Schicht-Geschichte ist keine exotische Kuriosität, sondern Material für die lokale Selbstverständigung. Ein Kloster aus dem vierten Jahrhundert (das Hilarion-Kloster), ägyptische Verwaltungszentren aus der Bronzezeit, byzantinische Befestigungen – sie alle sind räumliche Manifestationen des Wissens, dass Territorium und Kultur unlösbar verflochten sind.

Besonders instruktiv ist die Umwandlung restaurierter historischer Bauten in soziale Infrastrukturen: Die UNESCO und Schweden restaurierten zwischen 2012 und 2023 insgesamt 75 kulturelle Stätten in Palästina, darunter zahlreiche im Gaza-Streifen. Das Al Khader Monastery etwa wurde in eine Kinder- und Jugendbibliothek umgewandelt – eine architektonische Antwort auf die Frage, wie Kontinuität mit gegenwärtigen Bedürfnissen versöhnt wird. Solche Projekte zeigen, dass kulturelle Bewahrung keine Luxusfunktion ist, sondern essenzielle soziale Dienste erbringen kann.

Die Ökonomie des Wiederaufbaus: Wer bezahlt für Erinnerung?

Die World Bank schätzt die Wiederaufbaukosten auf etwa 192 Millionen US-Dollar, für kulturelle Stätten allein werden 304 Millionen Euro für acht Jahre Rekonstruktion veranschlagt. Das ist eine erhebliche Summe, die in Relation zur weltweiten Entwicklungshilfe deutlich macht: Kulturelle Infrastruktur konkurriert mit Gesundheitsversorgung und Wohnungsbau um Ressourcen, die ohnehin knapp sind.

Diese Konkurrenz ist nicht abstrakt, sondern alltäglich. In einer Situation, in der Menschen in Zelten leben und Schulen Ruinen sind, wirkt Denkmalschutz wie ein Luxus. Und doch: Archäologe Wolfgang Zwickel betont zu Recht, dass der Gaza-Streifen lange Zeit nicht nur um Nahrung, sondern auch um Identität ringt. Die Identitätsfrage ist nicht sekundär zur Überlebensfrage – sie ist integral damit verflochten.

Das Problem liegt in der Finanzierungslogik. Internationale Organisationen (ALIPH, World Monuments Fund, UNESCO, British Council) engagieren sich, aber der politische Wille zur Finanzierung ist fragil. Mahmoud Balawi vom Iwan Center für Cultural Heritage warnt: ‘Kultur kann nicht warten.’ Und doch warten kulturelle Projekte regelmäßig auf Finanzierungszusagen, die von politischen Launen abhängen. Die Pläne existieren, die Fachkompetenz ist vorhanden – es fehlt die institutionelle Kontinuität und der finanzielle Wille.

Partizipation statt Dekoration: Ein anderes Modell urbanen Wiederaufbaus

Ein konstruktiver Ausblick ergibt sich aus der Frage: Wer entscheidet über Wiederaufbau? Die bisherige Wiederaufbauleistung im Gaza-Streifen basierte zu oft auf oberflächlichen, wenn nicht paternalistischen Ansätzen. Ein partizipatives Modell würde hingegen lokale Architektinnen, Handwerker und Gemeindemitglieder in den Kern der Planung stellen.

Vorbilder existieren: Die französisch-britische Zusammenarbeit bei archäologischen Surveys, die Kooperation zwischen RIWAQ (Riwaq Centre for Architectural Conservation) und internationalen Partnern – diese zeigen, dass Wissenstransfer funktionieren kann. Was jedoch fehlt, ist der strukturelle Raum für lokale Führungsschaft. Wenn Wiederaufbau als Chance für gesellschaftliche Selbstbestimmung verstanden wird, müssen Entscheidungsprozesse radikal demokratisiert werden.

Die 24-jährige Archäologin Yassin verkörpert diese Möglichkeit: Sie bleibt in Gaza, dokumentiert die Verluste, plant Wiederherstellung. Sie repräsentiert eine Generation von Fachleuten und Kulturschaffenden, die Wiederaufbau nicht als Gnade von außen verstehen, sondern als Recht auf Selbstgestaltung. Eine solche Partizipation könnte Wiederaufbau von der Wohltätigkeit zur Selbstermächtigung transformieren.

Schlussfolgerung: Nachhaltigkeit jenseits von Nachhaltigkeit

Wiederaufbau ohne kulturelle Kontinuität ist Wiederaufbau ohne Hoffnung. Das ist die zentrale Erkenntnis, die sich aus der Gaza-Situation ergibt. Nachhaltige Stadtentwicklung bedeutet nicht nur grüne Bauten und effiziente Infrastruktur – es bedeutet die Wahrung von Narrativen, die Pflege von Gedächtnisräumen, die Stärkung lokaler Identität.

Für Planerinnen, Architektinnen und Stadtentwicklerinnen weltweit stellt sich die Frage schärfer: Wie integrieren wir kulturelle Belange in die städtebauliche Praxis? Wie schützen wir historische Substanz, während wir Wohnraum schaffen? Diese Fragen sind nicht neu, aber Gaza macht ihre existenzielle Dimension sichtbar. Eine Gesellschaft, der ihr kulturelles Gedächtnis genommen wird, kann sich nicht nachhaltig selbst tragen.

Der Gaza-Streifen verdient nicht nur Mittel zur physischen Rekonstruktion, sondern eine grundlegende Anerkennung, dass kulturelle Infrastruktur essenzielle Infrastruktur ist – gleichberechtigt mit Wasser, Strom und Schulen. Dies ist kein romantisches Bekenntnis zur Kultur, sondern ein urbaner Imperativ: Städte ohne Gedächtnis sind nicht lebenswert.