Baukunst - Grüner Glanz über Atommüll? Kritische Gedanken zur Nachnutzung von Gundremmingen
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Grüner Glanz über Atommüll? Kritische Gedanken zur Nachnutzung von Gundremmingen

25.10.2025
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Ignatz Wrobel

VON ATOMEN ZU AMPERE

Wie Innovationen beim AKW-Rückbau die Energiewende architektonisch gestalten

Am 25. Oktober 2025 um 12 Uhr mittags detonierten zwei koordinierte Sprengladungen. Nach über einem Jahr intensiver Vorbereitung durch eine Thüringer Spezialfirma fiel das zweite Wahrzeichen des Atomzeitalters in Sekunden in sich zusammen. 56.000 Tonnen Stahlbeton – rund 160 Meter Höhe pro Turm – materialisieren sich als plötzliche Leerstelle. Tausende Besucherinnen und Besucher verfolgten dies aus sicherer Entfernung. Das Ereignis war visuelle Zeitenwende und zugleich Inszenierung einer kontrollierten Rückwärtstransformation: Was in den 1970er Jahren als Fortschrittsmaschine errichtet wurde, ist heute Abrissgebiet, das Material für den nächsten Energiestoff – Recyclingschotter.

Rückbau als Innovationstechnologie

Der AKW-Rückbau ist eine Ingenieursleistung, die in der Architekturgeschichte zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Während neue Gebäude den diskursiven Fokus dominieren, vollziehen sich beim Abbauprozess hochinnovative Material- und Dekontaminationstechnologien, die den Forschungsstand erheblich vorantreiben. Bei Gundremmingen entstehen sogenannte Rückbaufabriken – spezialisierte Fertigungsanlagen, die abgebaute Komponenten systematisch trennen, klassifizieren und für Wiederverwendung oder sichere Entsorgung aufbereiten. Laserschneideverfahren zerlegen hochaktivierte Bauteile, während elektromagnetische Pulsverfahren Betonstrukturen selektiv zerbröseln – Technologien, die längst ihre Anwendung in regulären Abbruchverfahren finden sollten. Die RWE-Gruppe hat hier kontinuierliche Forschung investiert, um die Standardisierung von Rückbauprozessen zu optimieren. Diese technische Raffinesse verdient nicht Marginalisierung, sondern Würdigung als Kern moderner Baukultur: Das Zurückbauen ist Bautechnik mit höchstem Anspruch.

Material-Zirkularität unter Spannung

Mit 56.000 Tonnen Beton ergibt sich eine immense Recycling-Aufgabe – und -chance. RWE plant, das Material vor Ort aufzubereiten und in den regionalen Stoffkreislauf zurückzuführen. Etwa 90 bis 98 Prozent der Rückbaumaterialien lassen sich so behandeln. Dieser Ansatz verkörpert das Ideal einer Kreislaufwirtschaft, das insbesondere die Baustoff-Industrie derzeit predigt. Allerdings gibt es hier eine kritische Komplexität: Material aus dem Kontrollbereich eines AKW durchläuft nach deutschem Atomgesetz ein Freigabeverfahren, nach dem Messungen belegen sollen, dass die Restaktivität unterhalb bestimmter Grenzwerte liegt. Dies führt zu einer kontroversen Praxis – das sogenannte Freigabeverfahren erlaubt dann die Verwendung dieses Materials im regulären Baustoff- und Wertstoffkreislauf, etwa im Straßenbau oder in neuen Betonbauteilen. Aktivistinnen und Aktivisten kritisieren dies als Verdünnung von Radioaktivität statt echter Sicherheit. Für die Architektinnen und Architekten, die mit solchen Materialien arbeiten, ergibt sich eine ethische Dimension: Ist zirkuläres Bauen im Kontext von AKW-Material ein Fortschritt oder eine verdrängte Ambivalenz? Die Antwort verlangt Transparenz, die derzeit oft ausbleibt.

Transformation durch Energiespeicherung

Architektonisch spannender ist die geplante Nachnutzung des Geländes. Bereits am 29. Oktober 2025 – nur vier Tage nach der Sprengung – soll der Spatenstich für einen Batteriespeicher mit einer Kapazität von etwa 700 Megawattstunden erfolgen. Dies wäre der größte Batteriespeicher Deutschlands. Das ist bemerkenswert: Ein Standort, der 50 Jahre lang Baseload-Energie aus der Kernspaltung generierte, wird zur Pufferfläche für fluktuierende erneuerbare Energien transformiert. Diese räumliche Metamorphose ist eine Art Energiewende-Allegorie: Was war monolithische Stromquelle, wird fragmentarische Speicherinfrastruktur. Doch auch hier gilt Skepsis: Ein 700-MWh-Speicher ist zwar technologisch fortgeschritten, jedoch wird seine Effizienz und strategische Relevanz mit zunehmender dezentraler Erzeugung relativiert. Die eigentliche Innovation läge in hybriden Speicherkonzepten – Batterien kombiniert mit thermischen, chemischen oder mechanischen Speichertechnologien. Das bloße Ersetzen von Kernkraft durch Batterie-Lithium ist Systemwechsel ohne Systemkritik.

Hybride Energieinfrastruktur

Parallel plant RWE ein Gaskraftwerk mit etwa 120 Megawatt Leistung für schnelle Regelenergie – mit Umrüstungsoption auf Wasserstoff. Zudem ist ein 45-Megawatt-Solarpark vorgesehen. Damit artikuliert sich am Standort Gundremmingen eine multi-modale Energieinfrastruktur: Speicher, flexible Gaskraft, Photovoltaik. Dies reflektiert realistischerweise die technische Notwendigkeit von Redundanz und Flexibilität im Stromsystem. Architektonisch bedeutet dies: Kein einzelner Typus (Reaktor, Wind, Solar) ist Totalität. Das Gelände wird zum multiplen Energiepatchwork – strategisch, aber auch symptomatisch für die Komplexität einer dezentralisierten Versorgungslandschaft. Die Herausforderung besteht darin, diese Heterogenität räumlich kohärent zu gestalten – nicht als Wildwuchs von Speicherkontainern, Spannungsleitungen und Maschinenbäusern, sondern als integrierte Energielandschaft mit städtebaulicher Qualität. Bislang liegen öffentliche Visualisierungen nicht vor. Die Planung sollte zur Partizipation einladen – es geht um regionale Energieautonomie und damit um öffentliche Mitverantwortung.

Kritischer Epilog: Nachhaltigkeit als Erzählung

Die Geschehnisse in Gundremmingen erzählen eine verführerische Geschichte: Aus Atomkraft wird Kreislaufwirtschaft, aus Stilllegung wird Innovation. RWE positioniert sich selbst als Akteur der Energiewende, und formal stimmt dies. Doch es lohnt sich, skeptisch zu disaggregieren: Das Gaskraftwerk ist ein CO₂-Emittent, der durch Wasserstoff-Optionierung nur rhetorisch grün wäscht – Wasserstoff aus Elektrolyse wäre im Maßstab nicht kurzfristig verfügbar. Die Solaranlage ist bedeutsam, aber nicht ausreichend für die Stromversorgung der Region. Der Batteriespeicher ist eine Technologie mit bekannten ökologischen Rucksäcken – Lithium-Abbau, Recycling-Infrastruktur, seltene Erden. Und das Recycling von AKW-Material, so innovativ die Technologie ist, verschiebt die Problematik von Atommüll nur zeitlich und räumlich. Das heißt nicht, dass diese Maßnahmen nicht sinnvoll sind. Es bedeutet nur, dass Architektur und Planung die kritische Fähigkeit bewahren sollten, zwischen genuine Innovation und Nachhaltigkeits-Marketing zu unterscheiden.

Fazit: Gestaltung von Mehrdeutigkeit

Gundremmingen wird zum Versuchsfeld einer post-Atom-Energielandschaft. Das ist wertvoll – und konfliktreich. Die architektonische Aufgabe besteht darin, diese Komplexität zu gestalten, ohne sie zu glätten. Das Gelände sollte nicht als Erfolgsnarrative inszeniert werden, sondern als Lernraum: Wie organisiert man Energiewende räumlich? Wie macht man Dezentralität infra strukturell? Wie navigiert man zwischen technischen Zwängen und demokratischen Aspir ationen? Die demolierten Kühltürme sollten Erinnerung bleiben – nicht gelöschte Symbole, sondern Bezugspunkte für die neue Kultur des Zurückbauens, Recycelns und des neu Gestaltens. Gundremmingen könnte so zur Landmarke nicht nur der Energiewende, sondern der Rückbaukultur werden.