Baukunst - 100 Jahre Frei Otto: Ein Manifest gegen konformistische Architekturlehre
100. Geburtstag Frei Otto (1925–2025) © Prestel-Buchveröffentlichung

100 Jahre Frei Otto: Ein Manifest gegen konformistische Architekturlehre

25.10.2025
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Berthold Bürger

ANLASS: 100 JAHRE FREI OTTO – EINE AKTUELLE WÜRDIGUNG

Wäre Frei Otto nicht 2015 verstorben, würde der deutsche Architekt in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern. Aus diesem Anlass erscheint der umfangreiche Band „Frei Otto – Bauen mit der Natur” (Prestel, € 62,95, 256 Seiten), herausgegeben von Joaquín Medina Warmburg und Anna-Maria Meister. Mit 250 Abbildungen von Bauten, Skizzen, Modellen und der Arbeitspraxis dokumentiert die Publikation nicht nur Ottos architektonische Werke, sondern macht seine Methodik sichtbar – die experimentelle Haltung, die das gesamte Oeuvre durchzieht.

Ein solcher Geburtstag mag als bloße Occasion erscheinen – eine Möglichkeit für Verlage und Institutionen, Retrospektiven zu organisieren. Doch bei Frei Otto ist dies anders. Seine Kritik an den Konventionen der Architektur, sein unbedingtes Vertrauen in das Experiment als Erkenntnismittel, seine Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit: Das sind keine historischen Fragen, sondern brennende Gegenwartsfragen. Die Veröffentlichung des neuen Prestel-Bandes gibt Anlass, genau hinzuschauen, welche Aspekte von Ottos Vermächtnis – insbesondere seine revolutionäre Pädagogik – in der zeitgenössischen Architekturlehre noch immer nicht institutionalisiert sind.

Formfinden statt Formbefehl: Die Pädagogik der Entdeckung

Wer Frei Ottos Werk verstehen möchte, muss zunächst begreifen, dass er nicht in den traditionellen Kategorien des Architekten dachte. Der 1925 im sächsischen Chemnitz geborene Otto entwickelte sich stattdessen zu einem Forscher und Pädagogen – ein Aspekt seiner Persönlichkeit, das die zeitgenössische Architekturliteratur oft übergeht. Seine didaktische Methode gründete auf einem radikalen Prinzip: Studierende sollten nicht schöne Gebäude entwerfen lernen, sondern verstehen, warum Gebäude so sein mussten, wie sie sind.

Das Institut für leichte Flächentragwerke (IL), das Otto 1964 an der Universität Stuttgart gründete, wurde zum Experimentierraum dieser Philosophie. Hier arbeiteten nicht nur Architektinnen und Architekten, sondern Biologinnen und Biologen, Ingenieurinnen und Ingenieure, Physikerinnen und Physiker. Diese bewusste Durchbrechung disziplinärer Grenzen war kein modisches Theoriegebilde, sondern notwendig: Wer verstehen wollte, wie eine Pfahlwurzel Lasten verteilt oder eine Seifenhaut eine minimale Fläche erzeugt, musste über die angestammten Fachdiskurse hinausschauen.

Ottos Grundüberzeugung war störrisch und heute – paradoxerweise – radikaler denn je: Nachhaltige Architektur ist kein ökologisches Zusatzmodul, sondern Folge konsistenten Denkens. Wer die Natur studiert, indem man sie modelliert, kann sie verstanden und genutzt werden. Dies führt zu wirtschaftlicherem, intelligenteren und verantwortungsvollerem Bauen – nicht später, nicht in einer separaten Vorlesung, sondern von Anfang an.

Das Experimentelle als Kernmethode: Lernen durch das Modell

Während die klassische Architekturlehre auf der Zeichnung und später der digitalen Simulation aufbaut, setzte Otto auf das physikalische Modell als primäres Erkenntnismittel. Das war keine nostalgische Hinwendung zum Handwerk – das war epistemologisch radikal. Ein Modell, das eine Pfahlwurzel oder eine Seifenhaut nachbildet, offenbart Kräfte und Geometrien, die jede noch so perfekte Zeichnung verbirgt. Studierende erlebten die Logik der Konstruktion nicht nur als Konzept, sondern als physikalische Realität.

Die 250 Abbildungen im neuen Prestel-Band dokumentieren diese Modellpraxis eindrucksvoll. Sie zeigen nicht bloß fertige Bauten, sondern den Forschungsprozess – Skizzen, Experimentierstadien, Fehlversuche. Das ist selten in der Architekturdokumentation. Normalerweise sehen wir das Ergebnis. Otto macht den Weg sichtbar.

Die Schülerinnen und Schüler am IL lernten nicht auswendig, sondern fragten. Sie probierten. Sie scheiterten. Sie wiederholten. Diese Fehlerfreundlichkeit war Otto fundamental wichtig – sie ist auch heute in einer Architekturlehre, die Sicherheit und Zeugnis-Rationalität bevormundet, die größte Seltenheit. Der Preis dieser Methode war Zeit; der Gewinn war Verständnis, das sich in später selbstständig gelösten Aufgaben zeigt.

Partizipation und Selbstbau: Die sozialen Dimensionen der Lehre

Ein weiterer, oft unterschätzter Aspekt von Ottos Vermächtnis liegt in seinen Ökohäusern, die 1987 zur Internationalen Bauausstellung in Berlin entstanden. Diese Wohngruppe folgte nicht nur ökologischen Standards – sie war ein Lehrinstitut in gebauter Form. Die Idee war simpel und genial zugleich: Zukünftige Bewohnerinnen und Bewohner sollten ihre Häuser selbst bauen, unterstützt durch erfahrene Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieure.

Das war Demokratisierung durch Partizipation. Es forderte Lernende heraus, ihre eigenen Ansprüche – an Material, an Form, an Dauerhaftigkeit – zu hinterfragen. Es machte transparent, dass Bauen nicht eine geheime Kunst ist, sondern nachvollziehbare Wissenschaft. Heute, in Zeiten von Baugruppen und partizipativen Prozessen, erscheint dieses Denken fast vorahnend. Ottos Projekte waren keine Ausnahmen, sondern Prototypen eines anderen Bauens.

Die bleibende Lücke: Was die Ausbildung nicht übernommen hat

Hier ist jedoch kritische Unterscheidung nötig. Ottos Ansätze sind nicht einfach in die zeitgenössische Architekturlehre eingezogen. Das ILEK an der Universität Stuttgart, von Werner Sobek nach Ottos Emeritierung weitergeführt, erhielt und entwickelt Aspekte seiner Methode – die interdisziplinäre Zusammensetzung von Forschungsteams, die Bedeutung von Modellen und Experimenten. Aber die Mehrheit der Architekturstudierenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz arbeitet nach wie vor primär digital. Sie entwerfen am Computer. Sie sehen Modelle als Visualisierungswerkzeug, nicht als Erkenntnisapparat.

Das ist kein bloßer Stilunterschied. Es bedeutet, dass Generationen von Architektinnen und Architekten ihre Projekte verabschieden – in einen Bauträger, ein Baubüro – ohne zu erleben, wie ihre Ideen funktionieren. Der Abstand zwischen Entwurf und Realität, zwischen studentischer Spekulation und erbautem Wissen, ist größer geworden, nicht kleiner.

Interdisziplinarität als Auftrag, nicht als Modeerscheinung

Das interdisziplinäre Arbeiten, das Otto vorgelebt hat, ist heute allgegenwärtig als Schlagwort – und zugleich marginalisiert in seiner praktischen Umsetzung. Jedes Lehrprogramm rühmt sich seiner innovativen Kooperationen zwischen Architektur, Engineering und Design. Aber echte Interdisziplinarität, bei der nicht nur die Ergebnisse kombiniert, sondern die Methoden, die Fragen, die Grundhaltungen durchmischt werden, ist anspruchsvoll. Sie kostet Zeit. Sie verlangt gegenseitiges Vertrauen.

Ottos Forderung, dass Architektur und Bauingenieurwesen nicht zwei Fachrichtungen sind, sondern eine geteilte Verantwortung, bleibt unerfüllt. Die meisten Institute trennen sie streng. Die Folge ist ein kultureller Bruch: Architektinnen und Architekten sehen sich als Kulturträger, Ingenieurinnen und Ingenieure als Techniker. Ottos Generation hätte das als Verlust betrachtet.

Von Stuttgart in die Welt – und zurück

Was bleibt? Das ILEK erforscht weiterhin Formfindung, Leichtbau und nachhaltige Konstruktion. International wirkt Ottos Denken nach in einer ganzen Generation von Architekten und Architektinnen, die seine Bücher lesen und seine Modelle studieren. Doch es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Rezeption einer Idee und ihrer Institutionalisierung.

Ottos Vermächtnis ist paradox: Seine Kritik am Standard – an der unnötigen Rohstoffverschwendung, am Ignorieren von Naturprinzipien, am Rückzug von ethischen Fragen aus dem Entwurf – wird heute, Jahrzehnte später, als Prophezeiung wahrgenommen. Gleichzeitig wurden Teile seines Werks trivialisiert. Biomorphe Formen sind Mode geworden. Nachhaltigkeit ist ein Marketing-Etikett. Die Bedeutung der genauen Beobachtung und des physikalischen Experimentierens hingegen ist unter einem Berg von Parametern und Simulationen begraben.

Ausblick: Was eine zeitgenössische Pädagogik von Otto lernen könnte

Eine Architekturlehre, die Ottos Ansätze heute neu durchdenkt, müsste mehrschichtig arbeiten. Erstens: Den Entwurfsprozess wieder stärker an das Gebäude rückbinden – nicht nur als Visualisierung, sondern durch Vor-Ort-Recherche, Materialstudium und Prototyping. Studentische Projekte sollten nicht in der Fiktionalität enden, sondern wo möglich, realisiert werden.

Zweitens: Interdisziplinäre Teams nicht als Nebensache, sondern als Normalfall etablieren. Das bedeutet, strukturelle Hürden zwischen Fachrichtungen abzubauen und Prüfungsordnungen so zu gestalten, dass echte Zusammenarbeit möglich wird.

Drittens: Den Fehler und das Scheitern als Lernmomente normalisieren. Das braucht eine kulturelle Verschiebung in einer Profession, die Vollkommenheit und Zeugnis-Rationalität bevormundet.

Viertens: Partizipative und soziale Dimensionen des Bauens von Anfang an als zentrales Thema behandeln, nicht als ethisches Zusatzmodul.

FAZIT: DAS BUCH ALS SPIEGEL

Das neue Prestel-Buch ist weit mehr als eine Jubiläumsschrift. Es ist ein Weckruf. Es dokumentiert, dass die architektonische Ausbildung von Frei Ottos Fragen nicht absehen kann – Fragen, die heute, in Zeiten der Klimakrise und der Rohstoffknappheit, dringlicher sind denn je. Ottos Antworten werden nicht einfach kopiert. Sie sind zu komplex, zu individuell, zu an seine Zeit gebunden. Aber seine Methode – Experiment, Fehler, Interdisziplinarität, Partizipation – ist zeitlos. Sie müssen nur wieder ernst genommen werden.

BUCHINFO

Frei Otto – Bauen mit der Natur
Herausgeber:
Joaquín Medina Warmburg und Anna-Maria Meister
Verlag: Prestel
Preis: € 62,95
Umfang: 256 Seiten
Abbildungen: 250 Abbildungen von Bauten, Skizzen, Modellen und der Arbeit