Baukunst - Allgemein anerkannte Regeln der Technik: Verzichtbar oder unverzichtbar?
„Wohnung funktioniert nicht“ – reicht das als Warnung?

Allgemein anerkannte Regeln der Technik: Verzichtbar oder unverzichtbar?

09.12.2025
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Claudia Grimm

Ein Urteil mit Signalwirkung

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat im Dezember 2024 ein Urteil gefällt, das in der Fachwelt für erhebliche Diskussionen sorgt. Im Kern ging es um die Frage, wie umfassend Architektinnen und Architekten ihre Auftraggebenden über Abweichungen von den allgemein anerkannten Regeln der Technik (a.a.R.d.T.) aufklären müssen. Die Antwort des Gerichts überrascht: Der lapidare Hinweis „Wohnung funktioniert nicht“ wurde als ausreichend gewertet, um einen fachkundigen Bauträger über die Risiken fehlenden Sonnenschutzes zu informieren (Az. 10 U 38/24).

Der zugrundeliegende Fall illustriert ein alltägliches Szenario der Baupraxis: Ein Architekt plante eine Wohnungseigentumsanlage mit Sonnenschutz für große Fensterflächen, wie es die DIN 4108-2 zum Wärmeschutz vorsieht. Der Bauträger entschied jedoch, diesen nur als kostenpflichtigen Sonderwunsch anzubieten. Als die Erwerber der Dachgeschosswohnungen später rund 100.000 Euro Schadensersatz forderten, wollte der Bauträger den Architekten in Regress nehmen.

Zwischen Erleichterung und Risiko

Das Gericht wies die Klage ab. Die Begründung: Der Architekt habe seine Aufklärungspflicht erfüllt, indem er auf die mangelnde Funktionalität hinwies. Eine detaillierte technische Belehrung über die einschlägige DIN-Norm sei bei einem erfahrenen Bauträger nicht zwingend erforderlich gewesen.

Auf den ersten Blick erscheint dieses Urteil als seltener Lichtblick für die Planungspraxis. Hier werden Architekten nicht mit überbordenden Informationspflichten belastet. Der Bauherr wird in seiner fachlichen Kompetenz ernst genommen. Doch die Rechtsanwälte Marius Holdschik und Olrik Vogel warnen im Deutschen Architektenblatt eindringlich davor, dieses Einzelfallurteil zu verallgemeinern.

Die Problematik liegt auf der Hand: Das Urteil setzt die Hürde für eine wirksame Risikoübertragung auf den Bauherrn sehr niedrig. Es suggeriert, dass eine funktionale Beschreibung bereits ausreichen könnte, selbst wenn eine explizite technische Aufklärung unterbleibt. Darauf sollten sich Architektinnen und Architekten keinesfalls verlassen.

Das Gebäudetyp E Gesetz als Paradigmenwechsel

Fast zeitgleich mit dem Stuttgarter Urteil nimmt ein gesetzgeberisches Vorhaben Fahrt auf, das die gesamte Diskussion um die a.a.R.d.T. neu rahmt. Das Gebäudetyp E Gesetz, für das das Bundesjustizministerium und das Bundesbauministerium im November 2025 gemeinsame Eckpunkte vorgelegt haben, will das Bauen in Deutschland grundlegend vereinfachen.

Der Kerngedanke: Eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik soll künftig nicht mehr automatisch einen Sachmangel begründen. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen sicherheitsrelevanten Normen, die weiterhin als a.a.R.d.T. gelten und zwingend einzuhalten sind, und reinen Komfortnormen, deren Einhaltung nicht mehr automatisch geschuldet sein soll.

Konkret bedeutet das: Die Mindestanzahl von 47 Steckdosen in einer Dreizimmerwohnung nach DIN 18015-2 wäre künftig verhandelbar. Der Trittschallschutz über das technisch notwendige Maß hinaus könnte eingespart werden. Die Normtemperatur von 24 Grad im Badezimmer müsste nicht mehr zwingend erreicht werden. All dies unter der Voraussetzung, dass die Vertragsparteien sich darauf einigen und entsprechend aufgeklärt wurden.

Innovation versus Sicherheit

Die Bundesministerinnen Stefanie Hubig (Justiz) und Verena Hubertz (Bauwesen) versprechen erhebliche Kosteneinsparungen. Das Bundesjustizministerium beziffert das Potenzial auf bis zu acht Milliarden Euro jährlich. Der Verband bayerischer Wohnungsunternehmen rechnet mit etwa zehn Prozent niedrigeren Baukosten.

Kritische Stimmen mahnen jedoch zur Vorsicht. Die Sorge vor einem „Wohnen zweiter Klasse“ ist nicht unbegründet. Die Erinnerung an die stigmatisierten Schlichthäuser der Nachkriegszeit, deren Bewohner abwertend als „Mau-Maus“ bezeichnet wurden, schwingt in der Debatte mit. Der Erfolg des Gebäudetyp E wird davon abhängen, ob die Balance zwischen Kosteneinsparung und Wohnqualität gelingt.

Besonders interessant ist der Blick auf die Pilotprojekte: In Bayern werden seit Dezember 2023 neunzehn Vorhaben nach dem Gebäudetyp E Prinzip realisiert. Der Architekt Florian Nagler experimentiert an seinen Forschungshäusern in Bad Aibling mit einfacheren und kostengünstigeren Bauweisen. Die Erkenntnisse sollen der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Handlungsempfehlungen für die Praxis

Das Stuttgarter Urteil und das Gebäudetyp E Gesetz markieren einen Wendepunkt im Umgang mit technischen Standards. Für Architektinnen und Architekten ergeben sich daraus konkrete Handlungsnotwendigkeiten.

Die umfassende schriftliche Dokumentation bleibt unverzichtbar. Jede Abweichung von den a.a.R.d.T. sollte detailliert beschrieben und durch den Auftraggeber bestätigt werden. Der technische Sachverhalt muss ebenso klar dargestellt werden wie die funktionalen und rechtlichen Konsequenzen. Eine schriftliche Zustimmung des Auftraggebers nach erfolgter Aufklärung ist dringend zu empfehlen.

Die Fachkunde des Auftraggebers kann die Aufklärungspflicht zwar beeinflussen, sollte aber niemals als Freibrief verstanden werden. Im Zweifel gilt: lieber zu ausführlich als zu knapp dokumentieren. Denn vor einem anderen Gericht könnte selbst der Hinweis auf mangelnde Funktionalität als unzureichend bewertet werden.

Fazit: Zwischen Aufbruch und Vorsicht

Die aktuelle Rechtsentwicklung eröffnet neue Spielräume für innovatives und kostengünstiges Bauen. Das Gebäudetyp E Gesetz könnte tatsächlich jene „Baupreisbremse und Bauturbo in einem“ werden, die Bundesjustizministerin Hubig verspricht. Gleichzeitig bleibt die Mahnung der Stuttgarter Juristen berechtigt: Wer sich allein auf wohlwollende Urteile verlässt und auf gründliche Aufklärung verzichtet, geht erhebliche Haftungsrisiken ein.

Die eigentliche Innovation liegt vielleicht weniger in der Absenkung von Standards als in der Etablierung einer neuen Kommunikationskultur zwischen Planenden und Bauherren. Wer die Möglichkeiten des vereinfachten Bauens nutzen will, muss bereit sein, offen über Alternativen, Risiken und Konsequenzen zu sprechen. Das erfordert nicht weniger, sondern mehr fachliche Kompetenz.