
Wenn Architektur zur Zeitmaschine wird
Es gibt Momente, in denen Architektur mehr ist als die Summe ihrer Materialien und Räume. Im Museo Egizio in Turin orchestriert das Rotterdamer Büro OMA unter der Leitung von David Gianotten und Andreas Karavanas eine solche Transformation. Hier verschmelzen 200 Jahre Museumsgeschichte mit der Ewigkeit des alten Ägyptens zu einem Palimpsest urbaner Poesie.
Die Metapher des Palimpsests – jenes mittelalterlichen Pergaments, auf dem Schicht um Schicht neue Texte über alte geschrieben wurden – könnte kaum treffender sein. “Wir haben die Piazza Egizia als Palimpsest konzipiert, das die verschiedenen Schichten der Museumsgeschichte offenlegt”, erklärt Projektarchitekt Andreas Karavanas. Diese Philosophie durchzieht das gesamte Projekt wie ein goldener Faden, der sich durch die Jahrtausende webt.
Die Choreografie des Lichts
Der radikalste Eingriff manifestiert sich in der neu gestalteten Galerie der Könige. Wo einst der Bühnenbildner Dante Ferretti 2006 eine Black Box inszenierte, entfaltet sich nun eine Symphonie aus Licht und Reflexion. Die Reise beginnt in absoluter Dunkelheit – digitale Projektionen flimmern über schwarze Wände, erzählen von Karnak, dem mythischen Ursprungsort der monumentalen Statuen. Dann, plötzlich, die Epiphanie: Durch zwei luminöse Öffnungen strömt das Licht, natürlich und künstlich zugleich, und taucht die kolossalen Götter und Pharaonen in eine ätherische Aura.
Die Wände aus eloxiertem Aluminium werden zu metaphysischen Spiegeln, die nicht nur das Licht brechen, sondern auch die Bewegungen der Besucherinnen und Besucher, die Statuen und den Raum selbst in unendlichen Variationen reflektieren. Es ist, als würde die Architektur selbst atmen, pulsieren, leben. Die subtilen Reflexionen schaffen einen Raum zwischen Realität und Traum, zwischen Turin und Theben, zwischen Gestern und Heute.
Sechs urbane Zimmer als städtische Symphonie
Das Herzstück der Transformation bildet die Piazza Egizia – ein überdachter Hof, der sich als moderner Tempel der Begegnung inszeniert. Doch sie ist nur eine von sechs “urbanen Zimmern”, die OMA wie Perlen an einer unsichtbaren Schnur aufreiht. Jeder Raum besitzt seine eigene Identität, seinen eigenen Maßstab, seine eigene Funktion – und doch sind alle durch ein geometrisches Bodenmuster verbunden, inspiriert von der Grabmaske der Merit.
Diese ornamentale Geometrie ist mehr als Dekoration; sie ist eine visuelle Sprache, die über die Jahrhunderte hinweg kommuniziert. Die Linien und Formen erzählen von einer Zivilisation, die Mathematik und Mystik, Ordnung und Chaos in perfekter Balance hielt. In der zeitgenössischen Übersetzung durch OMA wird dieses uralte Vokabular zu einem Leitsystem, das Besucherinnen und Besucher intuitiv durch die verschiedenen Zeitebenen navigiert.
Die Demokratisierung des Heiligen
Was OMA hier vollbringt, ist nichts Geringeres als eine Demokratisierung des musealen Raums. Die neuen Öffnungen entlang der Via Duse laden Passantinnen und Passanten ein, Teil der Inszenierung zu werden – mit oder ohne Eintrittskarte. Die monumentale Statue des Seti II wird durch die neu geöffneten Fenster zur urbanen Skulptur, sichtbar von der Straße, ein stiller Wächter zwischen den Welten.
Diese radikale Öffnung transformiert das Museum von einem exklusiven Tempel der Bildungselite zu einem inklusiven Stadtraum. “Das Museo Egizio war historisch ein zentraler öffentlicher Raum in Turin”, betont David Gianotten. “Wir glauben, dass es essentiell ist, diese öffentliche Natur des Museums wiederherzustellen und es wieder in das Netzwerk der öffentlichen Räume Turins zu integrieren.”
Materialität als emotionale Sprache
Die Materialwahl ist von poetischer Präzision: Das transparente Stahldach der Piazza Egizia, verkleidet mit Aluminium, wird zum technischen Kunstwerk, das Regenwasser sammelt, Luft zirkulieren lässt und Licht filtert. Es ist nachhaltige Architektur, die ihre Funktionalität nicht versteckt, sondern zelebriert. Die historischen Gewölbe aus dem 17. Jahrhundert werden freigelegt und treten in Dialog mit den zeitgenössischen Interventionen – ein Gespräch zwischen Barock und Moderne, das ohne Worte auskommt.
In der Galerie der Könige schaffen die Aluminiumwände eine fast sakrale Atmosphäre. Sie sind nicht nur Informationsträger, sondern emotionale Verstärker. Ihre subtilen Reflexionen multiplizieren den Raum ins Unendliche, lassen die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Betrachter und Betrachtetem verschwimmen. Es entsteht eine Raumqualität, die an die Lichtinstallationen eines James Turrell erinnert – immersiv, transformativ, transzendent.
Ein neues Kapitel urbaner Kultur
Mit der für 2025 geplanten Fertigstellung schreibt OMA ein neues Kapitel in der Geschichte des Museo Egizio. Es ist eine Geschichte, die von Mut zeugt – dem Mut, ein Museum nicht als statisches Archiv zu begreifen, sondern als lebendigen Organismus, der mit der Stadt atmet. Die Transformation des ältesten ägyptischen Museums der Welt außerhalb Kairos wird zum Manifest einer neuen Museumsarchitektur, die nicht monumentalisiert, sondern demokratisiert, die nicht abschottet, sondern öffnet, die nicht konserviert, sondern aktiviert.
Andrea Tabocchini, der lokale Architekturpartner, bringt es auf den Punkt: “Kultur muss die Vergangenheit ehren und gleichzeitig lebendig bleiben, sich entwickeln, in der Gegenwart relevant sein und die Zukunft inspirieren.” In diesem Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Innovation entfaltet das Museo Egizio 2024 seine wahre Kraft – als urbane Kathedrale, in der sich die Ewigkeit Ägyptens mit der Lebendigkeit Turins zu einer neuen Form städtischer Spiritualität verbindet.

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