
Baustoffinnovation zwischen Vision und Wirklichkeit
Die Bauwirtschaft steht vor einer der größten Transformationen ihrer Geschichte. Neue Technologien versprechen, Gebäude nicht nur nachhaltiger, sondern zu aktiven Klimaschützern zu machen. Gleichzeitig geraten etablierte Rohstoffquellen unter Druck. Zwischen Forschungslabor und Baustelle entscheidet sich, ob der Traum vom grünen Bauen Realität wird.
Beton als aktiver CO₂-Speicher – die Technologie von morgen
Beton ist heute der Klimasünder Nummer eins der Baubranche: Weltweit werden jährlich rund 30 Milliarden Tonnenverbaut, bei deren Herstellung enorme Mengen Kohlendioxid freigesetzt werden. Forschende der ETH Zürich arbeiten an einem radikalen Ansatz: Beton, dem Kohlenstoffgranulat zugesetzt wird. Dieses Granulat wird aus CO₂ gewonnen, das direkt aus der Luft abgeschieden wird. Der Prozess ist komplex. In einem ersten Schritt wird Kohlendioxid mit grünem Wasserstoff zu Methan umgewandelt, anschließend in festen Kohlenstoff gespalten und schließlich als Granulat dem Beton beigemischt. Ergebnis: Ein Material, das mehr CO₂ speichert, als es bei der Zementproduktion verursacht. Die Chancen sind gewaltig – aber die Hürden ebenso. Für die Herstellung des Kohlenstoffgranulats sind große Mengen erneuerbarer Energie nötig, die erst nach der Energiewende im Überfluss vorhanden sein werden. Außerdem muss der Bauschutt nach dem Abriss dauerhaft deponiert werden, um das gespeicherte CO₂ nicht wieder freizusetzen. In einer Welt mit knappen Deponieressourcen ist das ein ungelöstes Problem.
Holz und Bambus – traditionelle Baustoffe mit Zukunftspotenzial
Holz bleibt ein Eckpfeiler nachhaltigen Bauens. Fachwerkhäuser beweisen seit Jahrhunderten, dass Holz CO₂ langfristig binden kann. Forschungen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zeigen: Würde der Holzanteil in Neubauten weltweit massiv steigen, könnten bis 2100 mehr als 100 Milliarden Tonnen CO₂ gebunden werden. Doch Holz ist nicht unbegrenzt verfügbar. Klimawandel, Schädlingsbefall und Übernutzung bedrohen Wälder. Ohne konsequentes Waldmanagement und Wiederaufforstung droht ein Rohstoffengpass, der das Potenzial von Holz als Klimaretter einschränkt. Ähnliches gilt für Bambus, der vor allem in Asien eine zentrale Rolle spielt.
Kreislaufwirtschaft: Der geschlossene Materialkreislauf
Neben neuen Materialien setzen viele Forschende auf radikale Kreislaufstrategien. Der Traum: Zement und Zuschläge wie Sand und Kies werden am Ende des Lebenszyklus vollständig recycelt. Erste Pilotanlagen zeigen, dass dies technisch machbar ist. Sollte es gelingen, könnte die Bauindustrie ihren Rohstoffbedarf drastisch senken. Oliver Blask von der Technischen Hochschule Ingolstadt denkt noch weiter. Für ihn beginnt Nachhaltigkeit bei der Planung: „Am besten entsteht Bauschutt erst gar nicht.“ Das bedeutet: Langlebige Materialien, modulare Grundrisse und flexible Nutzungskonzepte. Ein Parkhaus könnte dann Jahrzehnte später zu einem Büro oder einer Wohnung werden – ohne Abriss und Neubau.
Die Krise der Sekundärrohstoffe
Parallel zu diesen visionären Ansätzen schrumpft das Angebot an industriellen Nebenprodukten, die bisher als günstige Rohstoffe dienten. Flugasche aus Kohlekraftwerken, Schlacke aus Hochöfen, Rea-Gips aus der Rauchgasentschwefelung – allesamt Materialien, die Zement und Beton teilweise ersetzten – verschwinden. Eine Studie des Leibniz-Instituts RWI prognostiziert: Bis 2040 wird Rea-Gips ganz wegfallen, Flugasche sich halbieren und auch Schlacke um zwei Drittel zurückgehen. Das bedeutet: Mehr Primärrohstoffe wie Sand, Kies und Kalkstein werden gebraucht – mit ökologischen und gesellschaftlichen Konflikten um Abbauflächen und Genehmigungen.
Digitalisierung und KI: Von der Forschung in die Praxis
Technologische Durchbrüche entstehen nicht nur bei den Materialien selbst. Digitale Werkzeuge wie Building Information Modeling (BIM) und Künstliche Intelligenz optimieren Materialeinsatz, Bauabläufe und Wartung. KI-gestützte Analysen können vorhersagen, wo Material gespart oder wiederverwendet werden kann. In Forschungsprojekten entstehen bereits digitale Zwillinge ganzer Gebäude, die über Jahrzehnte Daten sammeln. Diese Systeme ermöglichen vorausschauende Instandhaltung und reduzieren unnötigen Abriss.
Verändertes Bauen reduziert den Materialbedarf
Ein weiterer Trend wirkt der Rohstoffkrise entgegen: Bauen im Bestand. Immer häufiger werden bestehende Gebäude aufgestockt, umgebaut oder saniert, statt sie abzureißen. Im Wohnungsbau verschiebt sich der Fokus von Einfamilienhäusern hin zu Mehrfamilienhäusern, die pro Wohnung weniger Material benötigen. Auch im Infrastrukturbereich gilt zunehmend: Erhalt vor Neubau.
Fazit: Der Wettlauf gegen die Zeit
Die grüne Baustoffrevolution ist nicht am Ende, sondern steht am Anfang – und zugleich am Scheideweg. Innovationen wie CO₂-speichernder Beton, Kreislaufwirtschaft und digitale Steuerung könnten die Branche grundlegend verändern. Doch Rohstoffknappheit, Energiebedarf und politische Hürden drohen, diesen Fortschritt auszubremsen.
Die nächsten zehn Jahre werden entscheiden, ob Bauen ein Werkzeug zur Klimarettung wird – oder ob die Branche im Beton der Vergangenheit stecken bleibt.

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