
Berlins neue Materialkultur erobert die Hauptstadt
Das _matter Festival 2025 stellt passive Materialvorstellungen radikal in Frage
Vom 10. April bis 12. Oktober 2025 verwandelt sich die deutsche Hauptstadt in ein Experimentierfeld für die Materialkultur von morgen. Das _matter Festival, kuratiert vom Exzellenzcluster „Matters of Activity“ der Humboldt-Universität zu Berlin, stellt fundamental in Frage, was Forschende und Planende bislang über Materialien zu wissen glaubten.
Wenn Materialien eigene Geschichten erzählen
Die zentrale Provokation des Festivals liegt in einer scheinbar simplen Erkenntnis: Materialien sind nicht passiv. Sie agieren, haben ein Gedächtnis und verbinden menschliche mit nicht-menschlichen Akteuren über Zeiten und Orte hinweg. Diese Perspektive revolutioniert nicht nur die Materialwissenschaft, sondern eröffnet auch der Architektur völlig neue Gestaltungsräume.
Professor Wolfgang Schäffner, Sprecher des Clusters, bringt die Vision auf den Punkt: Der interdisziplinäre Ansatz verbindet über 200 Jahre Humboldt-Tradition mit 100 Jahren Bauhaus-Erbe. Mehr als 200 Forschende aus über 40 Disziplinen arbeiten daran, Designstrategien für Materialien zu entwickeln, die sich aktiv an ihre Umgebung anpassen.
Regionale Vernetzung als Berliner Markenzeichen
Die Verteilung des Festivals über zwölf Berliner Standorte spiegelt eine typisch regionale Besonderheit wider: die außergewöhnlich dichte Vernetzung von Wissenschafts- und Kulturinstitutionen in der Hauptstadt. Von der Charité über das Kunstgewerbemuseum bis hin zu innovativen Projekträumen wie dem BHROX bauhaus reuse entsteht ein Netzwerk, das andernorts seinesgleichen sucht.
Diese institutionelle Vielfalt ermöglicht es, komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse in unterschiedlichen Kontexten zu präsentieren. Die Ausstellung „Gefäße – Infrastrukturen des Lebens“ im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité verknüpft aktuelle Gefäßforschung zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren mit der Geschichte der Berliner Kanalisation, die mit Rudolf Virchow begann.
Käferholz wird zu Baukultur
Besonders bemerkenswert erscheint die Ausstellung „Symbiotic Wood“ im Kunstgewerbemuseum. Klimawandel und Monokulturen haben zu verstärktem Käferbefall in deutschen Wäldern geführt. Das anschließend von Pilzen besiedelte Holz gilt traditionell als unbrauchbar für den Bau. Die Ausstellung demonstriert den kulturellen und praktischen Wert dieses vermeintlichen Abfalls – ein Ansatz, der gerade in Zeiten knapper Ressourcen und steigender Baukosten höchste Relevanz besitzt.
Wissenschaft trifft Stadtentwicklung
Die Intervention „Swamp Things!“ im BHROX-Pavillon am Ernst-Reuter-Platz zeigt exemplarisch, wie Berliner Forschungsansätze direkt in die Stadtentwicklung einfließen. Das Projekt erkundet neue Wege zur Rekultivierung von Sümpfen, die einst der Stadtentwicklung weichen mussten. Solche Ansätze könnten wegweisend für die Klimaanpassung deutscher Großstädte werden.
Fermentierte Textilien und mikrobielle Kollaborationen
Die Ausstellung „Fermenting Textiles“ im Art Laboratory Berlin verbindet traditionelles Handwerk mit modernster Mikrobiologie. Kunsthandwerkerinnen, Anthropologen, Wissenschaftler und Künstlerinnen erforschen gemeinsam die Fermentation von Textilien in Schlamm und Pflanzenmaterial. Diese multi-spezies Kollaborationen spiegeln die im Schlammfärbeprozess integral angelegten Partnerschaften wider.
Digitale Zwillinge für die Medizin der Zukunft
Weniger sichtbar, aber nicht minder revolutionär arbeiten Forscherinnen des Clusters an „Adaptive Digital Twins“ für das Zentralnervensystem. Diese digitalen Abbilder gesunder Probanden ermöglichen es, anatomische Veränderungen durch Tumorwachstum oder chirurgische Eingriffe zu modellieren. Die Neurochirurgie der Charité erprobt und entwickelt diese Methoden zur präoperativen Planung kontinuierlich weiter.
Neue Planungskultur durch aktive Materialien
Für Architekten und Planerinnen eröffnet das Festival völlig neue Denkräume. Wenn Materialien nicht mehr statisch und passiv sind, sondern sich aktiv an Aufgaben und Umgebungen anpassen, verändert sich die gesamte Entwurfspraxis. Traditionelle Prozesse wie Filtern, Weben und Schneiden werden im digitalen Zeitalter zu Generatoren dynamischer und aktiver Materialitäten.
Die Ausstellung „Entangled – Architectural Yarns and Structural Textiles“ zeigt, wie textilbasierte Strukturen völlig neue architektonische Möglichkeiten schaffen. Statt starrer Konstruktionen entstehen adaptive Gebäudehüllen, die auf Umweltbedingungen reagieren können.
Klimakrise als Gestaltungsaufgabe
Das Festival versteht die menschengemachte Klimakrise explizit als Gestaltungsherausforderung. Indem es die inhärente Aktivität von Materialien nutzt statt zu unterdrücken, entstehen nachhaltige Alternativen zu energieintensiven und ressourcenausbeutenden Technologien. Diese Perspektive könnte fundamental verändern, wie deutsche Kommunen ihre Bauordnungen und Klimaanpassungsstrategien entwickeln.
Interdisziplinarität als regionale Stärke
Die Berliner Wissenschaftslandschaft bietet ideale Voraussetzungen für solch transdisziplinäre Ansätze. Die räumliche Nähe von Humboldt-Universität, Charité, Freier Universität, HTW und zahlreichen Max-Planck-Instituten ermöglicht Kooperationen, die andernorts logistisch kaum realisierbar wären. Hinzu kommen die Staatlichen Museen mit ihrer einzigartigen Sammlung und die Weißensee Kunsthochschule als wichtige Partnerin für Gestaltungsfragen.
Gesellschaftlicher Dialog im Humboldt Forum
Die Forschungsergebnisse des Clusters erhalten durch das offene Humboldt-Labor im Humboldt Forum eine gesellschaftliche Bühne. Diese Verbindung von Spitzenforschung und öffentlicher Vermittlung stärkt Berlins Position als Wissenschaftsstandort und schafft neue Formen des Dialogs zwischen Forschung und Gesellschaft.
Ausblick: Material als politische Kategorie
Das _matter Festival macht deutlich, dass Materialien politische Kategorien sind. Sie tragen Geschichten von Ausbeutung und Widerstand in sich, verbinden globale Lieferketten mit lokalen Praktiken und prägen unsere Vorstellungen von Nachhaltigkeit. Für die deutsche Baukultur könnte diese Erkenntnis wegweisend werden: Statt Materialien als neutrale Ressourcen zu betrachten, entstehen neue Formen des Planens, die deren inhärente Aktivität produktiv nutzen.
Die zwölf Ausstellungen des Festivals zeigen, dass eine neue Kultur des Materialen bereits im Entstehen begriffen ist. Sie könnte nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Architektur, Stadtplanung und Baukultur fundamental verändern. Berlin positioniert sich damit erneut als Labor für gesellschaftliche Transformation – diesmal mit Materialien als aktivem Gestaltungspartner.

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