
Die Grazer Ikone als Lehrstück regionaler Architekturgeschichte
Die Entscheidung ist gefallen: Das Bundesverwaltungsgericht hat die letzte Beschwerde gegen den Denkmalschutz der Terrassenhaussiedlung in Graz-St. Peter abgewiesen. Damit erhält ein Bauwerk, das wie kaum ein anderes die steirische Nachkriegsmoderne verkörpert, endgültig den Status eines schützenswerten Kulturguts. Was auf den ersten Blick wie eine rein konservatorische Maßnahme erscheint, wirft fundamentale Fragen zur Zukunft des regionalen Wohnbaus auf: Wie gehen wir in der Steiermark mit dem architektonischen Erbe der Nachkriegszeit um? Welche Impulse kann ein fast 50 Jahre altes Wohnbauprojekt für aktuelle Herausforderungen liefern?
Die zwischen 1972 und 1978 errichtete Siedlung der Werkgruppe Graz steht exemplarisch für eine Zeit des Aufbruchs, in der die steirische Landeshauptstadt zur Avantgarde-Hochburg wurde. Eugen Gross, Friedrich Groß-Rannsbach, Werner Hollomey und Hermann Pichler schufen gemeinsam mit Walter Laggner und Peter Trummer nicht einfach nur Wohnraum – sie realisierten eine bauliche Utopie, die internationale Beachtung fand und bis heute Architektinnen und Architekten aus aller Welt nach Graz lockt.
Partizipation als steirisches Erfolgsmodell
Was die Terrassenhaussiedlung von anderen Großwohnbauten der 1970er Jahre unterscheidet, ist ihre konsequente Orientierung an den Bedürfnissen der künftigen Bewohnerinnen und Bewohner. Die Werkgruppe Graz setzte auf einen damals revolutionären Ansatz: Mitbestimmung von Anfang an. Die späteren Mieterinnen und Mieter konnten aus 24 verschiedenen Wohnungstypen zwischen 45 und 150 Quadratmetern wählen und waren in Planungsprozesse eingebunden. Diese partizipative Herangehensweise war für die steirische Wohnbaukultur wegweisend und findet sich heute in zahlreichen Baugruppenprojekten und genossenschaftlichen Modellen wieder.
Die Interessensgemeinschaft Terrassenhaussiedlung (IG THS), die sich bereits während der Bauphase formierte, entwickelte sich zu einem Modell aktiver Selbstverwaltung. Gemeinsam mit der Hausverwaltung etablierte sie Strukturen, die in österreichischen Wohnanlagen selten zu finden sind: gemeinschaftlich genutzte Dachterrassen, eine Kommunikationsebene als sozialer Treffpunkt und vielfältige Serviceangebote für die 531 Wohneinheiten. Diese Form der organisierten Nachbarschaft wurde zum Exportschlager steirischer Wohnbaukultur.
Brutalismus zwischen Ablehnung und Anerkennung
Der charakteristische Sichtbeton – béton brut im Fachjargon – polarisierte von Beginn an. Während progressive Kräfte in Graz die Integration der massiven Betonarchitektur in die Landschaft am Fuße des Ruckerlbergs feierten, assoziierten Kritikerinnen und Kritiker das graue Material mit Asphalt und urbaner Tristesse. Eugen Gross, heute 91 Jahre alt und einer der letzten lebenden Architekten des Projekts, erinnert sich an heftige Debatten in der Grazer Stadtpolitik. Die steirische Landesbauordnung musste eigens angepasst werden, um die innovative Bauweise zu ermöglichen.
Heute gilt der Brutalismus der Siedlung als authentisches Zeugnis einer Epoche, in der Architektur gesellschaftliche Utopien formulierte. Die steirische Denkmalpflege erkannte früh die Bedeutung dieser Ästhetik für die regionale Baugeschichte. Christian Brugger vom Bundesdenkmalamt Steiermark betont, dass gerade die unveränderte Erhaltung der Anlage ihren außergewöhnlichen Wert ausmacht. Während andernorts brutalistische Bauten dem Abrissbagger zum Opfer fallen oder bis zur Unkenntlichkeit saniert werden, beweist die Grazer Siedlung die Dauerhaftigkeit und Qualität der damaligen Bauweise.
Regionale Baukultur im internationalen Kontext
Die Terrassenhaussiedlung entwickelte sich zu einem Magneten für Architekturtourismus. Andrea Jany, Wohnbauforscherin und Mitherausgeberin der Monographie “Gelebte Utopie”, berichtet von regelmäßigen Anfragen internationaler Delegationen. Studierende der TU Graz führen Gasthörerinnen und Gasthörer durch die Anlage, das Haus der Architektur organisiert regelmäßige Touren. Die Siedlung wurde zum Lehrstück, das zeigt, wie regionale Besonderheiten – die spezielle Topographie, das ehemalige Industriegelände mit seinen Tongruben, die Nähe zum Grünraum – in innovative Architektur übersetzt werden können.
Die steirische Architekturszene profitierte enorm von diesem internationalen Interesse. Die Werkgruppe Graz wurde zum Synonym für eine spezifisch steirische Moderne, die Funktionalität mit sozialem Anspruch verband. Jüngere Architekturbüros in Graz beziehen sich bis heute auf dieses Erbe, wenn sie verdichteten Wohnbau mit hoher Lebensqualität planen.
Herausforderungen zwischen Denkmalschutz und Modernisierung
Der nun rechtskräftige Denkmalschutz stellt die Eigentümerinnen und Eigentümer vor neue Herausforderungen. Energetische Sanierungen, barrierefreie Umbauten und technische Modernisierungen müssen mit den Auflagen der Denkmalpflege in Einklang gebracht werden. Die steirische Wohnbauförderung bietet zwar spezielle Programme für denkmalgeschützte Objekte, doch die Kosten bleiben erheblich.
Die Bewohnerschaft selbst zeigt sich gespalten: Während langjährige Mieterinnen und Mieter den Erhalt der ursprünglichen Architektur begrüßen, fordern jüngere Bewohnerinnen und Bewohner zeitgemäße Standards bei Wärmedämmung und Haustechnik. Die IG THS arbeitet an Kompromisslösungen, die den Charakter der Anlage bewahren und gleichzeitig notwendige Anpassungen ermöglichen. Ein eigens eingerichteter Arbeitskreis entwickelt gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt und der Stadt Graz Leitlinien für zukünftige Sanierungsmaßnahmen.
Impulse für den aktuellen steirischen Wohnbau
Die Terrassenhaussiedlung liefert überraschend aktuelle Antworten auf drängende Fragen des Wohnbaus. Die konsequente Verdichtung bei gleichzeitiger Schaffung privater Freiräume – jede Wohnung verfügt über eine Terrasse oder einen Dachgarten – zeigt Alternativen zur fortschreitenden Zersiedelung der steirischen Kulturlandschaft auf. Die schwimmende Konstruktion auf Tiefgründungspfählen, die optimal auf den schwierigen Baugrund reagiert, demonstriert ressourcenschonenden Umgang mit Flächen.
Die soziale Durchmischung, die durch unterschiedliche Wohnungsgrößen und -typen erreicht wird, könnte Modell für aktuelle Diskussionen um leistbares Wohnen sein. Die Steiermark kämpft wie andere Bundesländer mit steigenden Wohnkosten und sozialer Segregation. Die Terrassenhaussiedlung beweist, dass hochwertige Architektur und soziale Vielfalt keine Gegensätze sein müssen.
Ein Denkmal mit Zukunft
Der Denkmalschutz für die Terrassenhaussiedlung ist mehr als nostalgische Rückschau. Er anerkennt ein Bauwerk, das zentrale Fragen des Zusammenlebens architektonisch beantwortet hat und weiterhin beantwortet. Für die steirische Baukultur bedeutet diese Entscheidung eine Verpflichtung: Das Erbe der Nachkriegsmoderne nicht nur zu bewahren, sondern als Inspirationsquelle für zeitgenössische Lösungen zu nutzen.
Die Grazer Siedlung zeigt, dass regionale Architektur dann internationale Strahlkraft entwickelt, wenn sie lokale Gegebenheiten mit universellen Ideen verbindet. Die Werkgruppe Graz schuf vor einem halben Jahrhundert ein Stück gebaute Utopie, das heute aktueller erscheint denn je. In Zeiten von Klimakrise, Wohnungsnot und sozialer Fragmentierung liefert die Terrassenhaussiedlung Denkanstöße, die weit über die Steiermark hinausreichen. Ihr Denkmalschutz ist daher nicht nur Würdigung vergangener Leistungen, sondern Auftrag für zukünftige Generationen von Architektinnen und Architekten, Planerinnen und Planern, mutige Visionen für das Zusammenleben zu entwickeln.

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