Baukunst - Betonleichen sprengen statt Umnutzen – Duisburgs klimafeindlicher Kahlschlag
Duisburg? © Baukunst.art

Betonleichen sprengen statt Umnutzen – Duisburgs klimafeindlicher Kahlschlag

24.09.2025
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Claudia Grimm

Das Ende der Weißen Riesen: Ein Koloss fällt – und mit ihm eine Epoche

Am Sonntagmorgen um 10:02 Uhr verschwanden 63 Meter Betongeschichte binnen zehn Sekunden in einer gewaltigen Staubwolke. Die Sprengung des dritten „Weißen Riesen” in Duisburg-Hochheide markiert nicht nur das Ende eines Gebäudes, sondern den Schlusspunkt einer städtebaulichen Vision, die einst als Lösung der Wohnungsnot gefeiert wurde. 170 Kilogramm Sprengstoff genügten, um das 1972 errichtete Hochhaus mit seinen 160 Wohnungen kontrolliert in sich zusammenfallen zu lassen – ein präziser technischer Akt, der eine jahrzehntelange soziale Erosion besiegelte.

Vom Vorzeigemodell zum Problemfall

Die „Weißen Riesen” verkörperten den Optimismus der frühen 1970er Jahre im Ruhrgebiet. Als moderne Antwort auf die Wohnungsnot der Nachkriegszeit konzipiert, sollten sie bezahlbaren Wohnraum für Arbeiterinnen und Arbeiter der umliegenden Industrien bieten. Die Landesbauordnung Nordrhein-Westfalens ermöglichte damals Hochhäuser dieser Dimension mit reduzierten Brandschutzauflagen – ein Umstand, der heute undenkbar wäre. Die weißen Fassaden, die den Gebäuden ihren Namen gaben, symbolisierten Sauberkeit und Modernität, einen Kontrast zum rußgeschwärzten Image der Montanregion.

Doch bereits in den 1980er Jahren begann der schleichende Niedergang. Der Strukturwandel des Ruhrgebiets, der Wegzug der Mittelschicht und fehlende Investitionen verwandelten die einst begehrten Wohnungen in soziale Brennpunkte. Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft GEBAG, die die Komplexe verwaltete, kämpfte jahrzehntelang gegen Leerstand, Verwahrlosung und soziale Segregation. Ein Teufelskreis aus sinkenden Mieteinnahmen und steigendem Sanierungsbedarf machte eine wirtschaftliche Bewirtschaftung unmöglich.

Regionale Besonderheiten der Ruhrgebietsarchitektur

Die Geschichte der Weißen Riesen ist untrennbar mit der spezifischen Entwicklung des Ruhrgebiets verbunden. Anders als in München oder Hamburg, wo Hochhaussiedlungen oft am Stadtrand entstanden, wurden sie in Duisburg direkt in gewachsene Arbeiterquartiere implantiert. Die räumliche Nähe zu Thyssen-Krupp und anderen Industriebetrieben war gewollt – kurze Wege zur Schicht galten als sozialer Fortschritt.

Die nordrhein-westfälische Landesbauordnung der 1970er Jahre spiegelte den damaligen Planungsoptimismus wider: Geschosszahlen bis zu 20 Etagen waren mit vereinfachten Genehmigungsverfahren möglich, die Abstandsflächen wurden zugunsten verdichteter Bebauung minimiert. Diese regulatorischen Rahmenbedingungen, gepaart mit massiven Förderungen des sozialen Wohnungsbaus durch das Land NRW, schufen die Voraussetzungen für Großprojekte wie die Weißen Riesen.

Der lange Weg zur Sprengung

Die Entscheidung zum Abriss fiel nicht leicht. Jahrelang diskutierten Stadtplanerinnen und Stadtplaner, Sozialarbeiter und Politikerinnen über Alternativen. Sanierungskonzepte scheiterten an den enormen Kosten – allein die energetische Ertüchtigung hätte pro Gebäude über 20 Millionen Euro verschlungen. Die Duisburger Baudezernentin verwies auf die veränderten Wohnansprüche: Familien suchen heute individuellere Grundrisse, barrierefreie Zugänge und private Freiräume. Die Weißen Riesen mit ihren standardisierten 65-Quadratmeter-Wohnungen konnten diese Bedürfnisse nicht mehr erfüllen.

Ein Gutachten der Architektenkammer NRW attestierte den Gebäuden 2019 „keine erhaltenswerte Bausubstanz”. Der Denkmalschutz, der in anderen Bundesländern durchaus Großwohnsiedlungen der 1970er Jahre unter Schutz stellt, sah in den Duisburger Hochhäusern keine schützenswerte Architektur. Im Gegensatz zu den Grindelhochhäusern in Hamburg oder dem Märkischen Viertel in Berlin fehlte den Weißen Riesen die architektonische Qualität und städtebauliche Einbindung.

Nachhaltigkeit versus Neubeginn

Die Sprengung wirft Fragen zur Nachhaltigkeit auf. Kritische Stimmen aus der regionalen Architekturfakultät der Universität Duisburg-Essen bemängeln die Verschwendung grauer Energie. Professor Martin Schmitz vom Lehrstuhl für Städtebau betont: „Jeder Abriss ist klimapolitisch problematisch. Die verbauten 45.000 Tonnen Beton hätten theoretisch recycelt werden können.” Andererseits argumentiert die Stadt mit der sozialen Nachhaltigkeit des Projekts. Die Beseitigung der Problemimmobilien ermögliche eine grundlegende Neuordnung des Quartiers.

Der Schutt wird tatsächlich zu 90 Prozent recycelt – als Unterbau für Straßen und Parkplätze. Ein schwacher Trost für Verfechterinnen und Verfechter der Umbaukultur, die in anderen Regionen erfolgreich Plattenbauten zu attraktivem Wohnraum transformieren. Das sächsische Modell der behutsamen Plattenbausanierung, gefördert durch spezielle Landesprogramme, kam für NRW nie ernsthaft in Betracht.

Zukunftsperspektiven für Hochheide

Auf dem 10 Hektar großen Areal soll bis 2030 ein durchmischtes Quartier entstehen. Die Planungen sehen 400 Wohneinheiten vor – deutlich weniger als die ursprünglichen 800 Wohnungen der drei Hochhäuser. Reihenhäuser, Stadtvillen und maximal viergeschossige Mehrfamilienhäuser sollen unterschiedliche Einkommensgruppen ansprechen. Die GEBAG verpflichtet sich, 30 Prozent als geförderten Wohnraum zu realisieren – ein Kompromiss zwischen sozialer Verantwortung und wirtschaftlicher Tragfähigkeit.

Die neue Landesbauordnung NRW von 2024 mit ihren verschärften Anforderungen an Barrierefreiheit und Klimaschutz prägt die Neuplanungen. Photovoltaikanlagen werden verpflichtend, Gründächer sollen das Mikroklima verbessern. Ein Mobilitätskonzept reduziert den Stellplatzschlüssel zugunsten von Fahrradinfrastruktur – undenkbar in den autogerechten 1970er Jahren.

Lehren für andere Regionen

Die Duisburger Erfahrung strahlt über das Ruhrgebiet hinaus. In Mannheim, Offenbach und selbst im reichen Stuttgart stehen ähnliche Entscheidungen an. Die Weißen Riesen mahnen zu differenzierter Betrachtung: Nicht jede Großwohnsiedlung ist per se gescheitert, nicht jeder Abriss alternativlos. Entscheidend sind lokale Faktoren wie Arbeitsmarkt, Bevölkerungsentwicklung und kommunale Finanzkraft.

Der Blick in andere Bundesländer zeigt Alternativen: Während Bayern mit millionenschweren Sonderprogrammen Großwohnsiedlungen stabilisiert, setzt Brandenburg auf kleinteilige Rückbaukonzepte. Die unterschiedlichen Länderbauordnungen und Förderpolitiken führen zu divergierenden Entwicklungen – ein föderaler Flickenteppich, der Vergleiche erschwert.

Der Fall Duisburg demonstriert eindringlich: Architektur ist nie nur gebaute Form, sondern immer auch sozialer Prozess. Die Weißen Riesen scheiterten nicht an statischen Mängeln, sondern an gesellschaftlichen Verwerfungen. Ihr Ende markiert das Eingeständnis, dass manche städtebaulichen Experimente nicht reparabel sind. Gleichzeitig eröffnet der Abriss Chancen für einen Neuanfang – kleinteiliger, durchmischter, nachhaltiger. Ob das gelingt, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Die Staubwolke vom Sonntagmorgen ist verweht, die Herausforderung bleibt bestehen.