Baukunst - Bewahren statt Brechen: Eine architektonische Vision für das neue Kampnagel
Foto: Carsten Happ auf Pixabay

Bewahren statt Brechen: Eine architektonische Vision für das neue Kampnagel

22.12.2024
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Die Revolution von oben

„Wir haben noch nie einen Baum gefällt“, erklärt Jean-Philippe Vassal mit einer Mischung aus Stolz und Überzeugung. Diese Aussage mag zunächst trivial erscheinen, doch sie symbolisiert den revolutionären Ansatz, mit dem das französische Architektenduo die Generalsanierung der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel angeht. Statt dem üblichen Reflex zu folgen, Bestehendes abzureißen und neu zu bauen, entwickeln sie eine spektakuläre Lösung: Sie erweitern nach oben und schaffen 7.000 Quadratmeter zusätzliche Fläche über den bestehenden Dächern.

Nachhaltigkeit jenseits der Zertifikate

Die Bestandserhaltung steht im Zentrum ihrer Philosophie, doch dieser Ansatz stößt paradoxerweise oft auf bürokratische Hürden. „Leider honorieren die Zertifizierungssysteme den Erhalt bestehender Gebäude nicht ausreichend“, kritisiert Anne Lacaton. Die gängigen Nachhaltigkeitszertifikate orientieren sich hauptsächlich an Neubauten und erschweren innovative Lösungen für Altbauten. Ein Dilemma, das symptomatisch für die aktuelle Baukultur ist.

Der Mensch im Mittelpunkt

Was die Planung des französischen Duos auszeichnet, ist ihr anthropologischer Ansatz. „Die Menschen möchten das Fenster öffnen, um auf den Balkon zu gehen, weil gerade die Sonne scheint“, beschreibt Lacaton ihre Philosophie der passiven Architektur. Diese scheinbar simple Beobachtung führt zu einem Paradigmenwechsel: Statt hermetisch abgeriegelter Klimakapseln entstehen atmende Gebäude, die von ihren Nutzern aktiv gesteuert werden.

Ökonomische Innovation

Mit einem Budget von 60 Millionen Euro, finanziert durch Bund und Stadt Hamburg, beweist das Architektenduo, dass nachhaltige Sanierung nicht teurer sein muss als Abriss und Neubau. „Die Kosten sind kein Argument“, betont Lacaton. „Unsere Erfahrung zeigt, dass die Kosten für den Umbau viel geringer sind als die Kosten für Abriss und Neubau.“ Eine Erkenntnis, die angesichts der aktuellen Wohnungskrise in Europa besondere Bedeutung gewinnt.

Kultur im Wandel

Die besondere Herausforderung bei Kampnagel liegt in der Kontinuität des Kulturbetriebs während der Bauphase. Das Architektenduo plant die Sanierung so, dass der Spielbetrieb nie vollständig unterbrochen werden muss – eine logistische Meisterleistung, die ihre Expertise im Umgang mit bewohnten Gebäuden zeigt. Die neue Spielstätte mit flexibler Bestuhlung und modernster Bühnentechnik wird das kulturelle Angebot erweitern, ohne die industrielle Identität des ehemaligen Kranwerks zu verwischen.

Fazit: Ein Modell für die Zukunft?

Die Generalsanierung von Kampnagel könnte zum Präzedenzfall für einen neuen Umgang mit historischer Bausubstanz werden. In einer Zeit, in der der Bausektor für einen erheblichen Teil der CO2-Emissionen verantwortlich ist, zeigt das Projekt, wie sich kulturelles Erbe, zeitgemäße Nutzung und Klimaschutz vereinen lassen. Das Konzept von Lacaton und Vassal beweist: Radikale Nachhaltigkeit und architektonische Innovation schließen sich nicht aus – im Gegenteil.

Die Transformation der Kulturfabrik Kampnagel wird zur Blaupause für eine neue Generation von Architekturprojekten, die nicht mehr der Logik des Abrisses folgen, sondern das Potential des Bestehenden erkennen und weiterentwickeln. Eine Vision, die weit über Hamburg hinaus Schule machen könnte.