Baukunst - Carlo Scarpa: Vom Außenseiter zur Ikone – Eine gesellschaftliche Neubewertung
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Carlo Scarpa: Vom Außenseiter zur Ikone – Eine gesellschaftliche Neubewertung

23.09.2025
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Stuart Rupert

Die späte Rehabilitation eines Visionärs

Carlo Scarpa war zeitlebens ein Paradoxon: Ein Architekt ohne formalen Abschluss, der die italienische Nachkriegsarchitektur revolutionierte. Seine Marginalisierung durch das akademische Establishment der 1950er und 60er Jahre erscheint heute als symptomatisch für eine Architekturszene, die sich in dogmatischen Grabenkämpfen zwischen Modernisten und Traditionalisten verlor. Während Architektinnen und Architekten seiner Generation um stilistische Reinheit rangen, schuf Scarpa eine zutiefst menschliche Architektur, die soziale Begegnungen choreografierte und kulturelle Teilhabe demokratisierte.

Die aktuelle Wiederentdeckung Scarpas ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Sehnsucht nach Räumen, die mehr bieten als funktionale Effizienz. In Zeiten urbaner Verdichtung und sozialer Fragmentierung erscheinen seine sorgfältig komponierten Schwellenräume, seine meditativen Wasserbecken und seine taktilen Materialkollagen als Gegenentwurf zur Anonymität zeitgenössischer Stadtarchitektur.

Demokratisierung durch Details

Scarpas revolutionärer Ansatz manifestiert sich besonders in seinen Museumsumbauten. Die Gipsoteca Canoviana in Possagno oder das Museo di Castelvecchio in Verona sind keine elitären Kunsttempel, sondern durchlässige Begegnungsräume. Durch geschickte Wegeführung, variierende Raumhöhen und überraschende Durchblicke schuf er eine Architektur der Inklusion. Besucherinnen und Besucher werden nicht durch monumentale Gesten eingeschüchtert, sondern durch subtile Details zum Verweilen eingeladen.

Seine charakteristische Behandlung von Treppen – nie nur Erschließung, immer auch sozialer Raum – transformierte funktionale Notwendigkeiten in Orte der Begegnung. Die berühmte Treppe der Querini Stampalia Stiftung in Venedig etwa inszeniert das Aufsteigen als gemeinschaftliches Ritual, bei dem sich Blicke kreuzen und Gespräche entstehen. Diese partizipative Dimension seiner Architektur war ihrer Zeit weit voraus.

Handwerk als soziale Praxis

Scarpas intensive Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkerinnen und Handwerkern – Steinmetzen aus Pove del Grappa, Glasbläsern aus Murano – war mehr als ästhetische Vorliebe. Sie repräsentierte ein alternatives Produktionsmodell, das regionale Identitäten stärkte und traditionelles Wissen bewahrte. In einer Zeit industrieller Standardisierung beharrte er auf der sozialen Dimension des Bauens als kollektiver kultureller Praxis.

Diese Haltung gewinnt heute neue Relevanz. Angesichts globalisierter Bauindustrien und prekärer Arbeitsbedingungen auf Großbaustellen erscheint Scarpas Modell der engen Kollaboration zwischen Planenden und Ausführenden als zukunftsweisend. Seine Baustellen waren Orte des Wissenstransfers, wo akademische Theorie und handwerkliche Praxis in einen produktiven Dialog traten.

Venezianische Lektionen für zeitgenössische Städte

Scarpas venezianische Projekte – von der Fondazione Querini Stampalia bis zum Negozio Olivetti – demonstrieren einen sensiblen Umgang mit historischem Bestand, der aktuelle Debatten um Nachverdichtung und Denkmalschutz bereichern könnte. Statt nostalgischer Rekonstruktion oder brutaler Überformung praktizierte er einen respektvollen Dialog zwischen Alt und Neu. Seine Interventionen artikulieren sich als eigenständige Zeitschicht, ohne die Integrität des Bestehenden zu negieren.

Diese Methodik bietet Antworten auf drängende urbanistische Fragen: Wie können wir gewachsene Stadtstrukturen transformieren, ohne ihre soziale DNA zu zerstören? Scarpas Architektur zeigt, dass behutsame Eingriffe kraftvoller wirken können als radikale Gesten. Seine Ergänzungen schaffen neue Nutzungsmöglichkeiten und soziale Räume, ohne gewachsene Nachbarschaften zu verdrängen.

Die politische Dimension des Poetischen

Die Kritik an Scarpa als apolitischem Ästheten greift zu kurz. Seine obsessive Detailarbeit war durchaus politisch: Sie beharrte auf der Würde des Alltäglichen und dem Recht auf ästhetische Erfahrung jenseits sozialer Schichten. Wenn er Monate damit verbrachte, die perfekte Türklinke zu entwerfen, ging es nicht um elitären Perfektionismus, sondern um die demokratische Überzeugung, dass alle Menschen qualitätvolle Räume verdienen.

Diese Haltung resoniert mit aktuellen Diskursen um räumliche Gerechtigkeit. Während sozialer Wohnungsbau oft unter dem Diktat der Kostenminimierung leidet, erinnert Scarpas Werk daran, dass ästhetische Qualität kein Luxus ist, sondern Grundrecht. Seine Architektur argumentiert implizit gegen die Zwei-Klassen-Gesellschaft des Bauens.

Renaissance eines humanistischen Architekturverständnisses

Die aktuelle Scarpa-Renaissance, manifestiert in Ausstellungen, Publikationen und Architekturtourismus zu seinen Bauten, signalisiert einen Paradigmenwechsel. Nach Jahrzehnten parametrischer Experimente und digitaler Virtuosität sehnt sich die Architekturszene nach haptischer Präsenz und emotionaler Resonanz. Junge Architektinnen und Architekten pilgern nach Verona und Venedig, um in Scarpas Räumen eine Alternative zur Bildschirmarchitektur zu erfahren.

Doch die Gefahr der Mythifizierung ist real. Scarpa zum unantastbaren Genius zu stilisieren, würde seinem dialogischen Architekturverständnis widersprechen. Produktiver wäre es, seine Methoden kritisch zu adaptieren: die intensive Auseinandersetzung mit lokalen Kontexten, die Integration handwerklicher Intelligenz, die Choreografie sozialer Begegnungen.

Conclusio: Lehren für die Gegenwart

Carlo Scarpas Rehabilitation ist mehr als kunsthistorische Gerechtigkeit – sie ist Symptom einer gesellschaftlichen Neuorientierung. In einer Zeit, in der Architektur zunehmend als Spekulationsobjekt oder Instagram-Kulisse funktionalisiert wird, erinnert sein Werk an die soziale Verantwortung des Bauens. Seine Räume sind Gegenmodelle zur Vereinzelung digitaler Welten: Sie zwingen zur körperlichen Präsenz, zur sinnlichen Wahrnehmung, zur zwischenmenschlichen Begegnung.

Die Wiederentdeckung Scarpas sollte jedoch nicht in nostalgischer Verklärung münden. Stattdessen gilt es, seine Prinzipien für zeitgenössische Herausforderungen zu übersetzen: Wie können partizipative Planungsprozesse von seiner Kollaborationspraxis lernen? Wie lässt sich seine Material-sensibilität mit Nachhaltigkeitsanforderungen verbinden? Wie können digitale Werkzeuge seine handwerkliche Präzision demokratisieren? Die Antworten auf diese Fragen werden zeigen, ob Scarpas Renaissance mehr ist als modische Nostalgie – nämlich Ausgangspunkt für eine neue, sozial engagierte Architekturpraxis.

Biografischer Hintergrund

Carlo Scarpa (1906-1978) war einer der eigenwilligsten Protagonisten der italienischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Geboren in Venedig, absolvierte er 1926 sein Studium an der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Venedig – allerdings nicht in Architektur, sondern in Architekturzeichnen. Dieser scheinbare Makel verfolgte ihn zeitlebens: Ohne formalen Architekturabschluss durfte er offiziell nur als “Professor für Architekturzeichnen” arbeiten und benötigte für jedes Bauprojekt die Unterschrift eines approbierten Architekten.