Baukunst - Das Experiment von Bregenz: Wie ein Museum zur Apotheke wird
Museum in Bregenz. Vorarlberg © Depositphotos_551535008_S.

Das Experiment von Bregenz: Wie ein Museum zur Apotheke wird

27.11.2025
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Ignatz Wrobel

Wenn Architektur heilt: Das Vorarlberg Museum als Medikament

Das westlichste Bundesland Österreichs macht wieder einmal von sich reden. Nicht mit spektakulären Holzbauten oder avantgardistischen Einfamilienhäusern, für die das Ländle seit Jahrzehnten international bekannt ist. Diesmal geht es um eine ebenso simple wie revolutionäre Idee: Ärztinnen und Ärzte verschreiben ihren Patientinnen und Patienten Museumsbesuche. Keine Pillen, keine Spritzen, sondern Kunst auf Krankenschein.

Das Vorarlberg Museum in Bregenz hat Anfang November 2025 gemeinsam mit der Vorarlberger Ärztekammer das Pilotprojekt „Museum auf Rezept“ gestartet. 1000 Freikarten stehen bereit, die niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner an ausgewählte Patientinnen und Patienten ausgeben können. Es ist das erste Projekt dieser Art in Österreich, und es wirft grundlegende Fragen auf: Was kann Architektur für die menschliche Gesundheit leisten? Und was bedeutet es, wenn ein Museumsgebäude selbst zum Teil einer Therapie wird?

Ein Haus wie ein Gefäß

Das Vorarlberg Museum am Kornmarktplatz bildet den westlichen Abschluss der Bregenzer Kulturmeile, die sich entlang des Bodenseeufers erstreckt. Zwischen Festspielhaus, Landestheater und Peter Zumthors ikonischem Kunsthaus entstand hier 2013 ein Bau, der das Prinzip des Weiterbauens zum architektonischen Programm erhebt. Die Bregenzer Architekten Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur, die 2007 den Wettbewerb gewannen, integrierten die denkmalgeschützte ehemalige Bezirkshauptmannschaft in einen sechsgeschossigen Neubau. Bestand, Aufstockung und Erweiterung verschmelzen zu einer kompakten Gebäudefigur, die sich als eigenständiger Solitär behauptet.

Was dem Bau seine unverwechselbare Identität verleiht, sind die 16.656 Betonblüten an der Fassade. Der Bozener Künstler Manfred Alois Mayr entwickelte das Konzept in enger Zusammenarbeit mit den Architekten: Aus den Böden handelsüblicher PET-Flaschen entstanden Abdrücke, die bis zu 45 Millimeter aus der fugenlosen Sichtbetonfläche herauswachsen. Der Verweis auf römische Tongefäße aus der Museumssammlung, einst Massenware wie heute Plastikflaschen, verleiht der spielerischen Geste kunsthistorische Tiefe. Das Museum als Gefäß für Sammlungen, buchstäblich in die Fassade eingeschrieben.

Die Vorarlberger Bauschule und das Soziale

Die Idee, dass Architektur mehr sein kann als gebauter Raum, hat in Vorarlberg Tradition. Die Neue Vorarlberger Bauschule, die seit den 1960er Jahren das Bauen im Ländle prägt, entstand nicht an Hochschulen, sondern als Opposition zum Establishment. Pioniere wie Hans Purin und Rudolf Wäger verfolgten ein gesellschaftspolitisch begründetes Ideal: sozial, erschwinglich, nachhaltig, regional. Die Reihenhausanlage Halde in Bludenz oder die Siedlung Ruhwiesen in Schlins wurden zu Prototypen eines Bauens, das möglichst einfache Methoden suchte, damit auch junge Familien zu einem eigenen Haus kommen konnten.

Diese Haltung, die das Bauen stets in größere gesellschaftliche Zusammenhänge einbettet, findet im Projekt „Museum auf Rezept“ eine zeitgemäße Fortsetzung. Architektur wird hier nicht als autonomes Kunstwerk verstanden, sondern als Instrument sozialer Teilhabe. „Wie bekommen wir jene ins Haus, die mit Kunst wenig bis nichts anfangen können?“, fragt Kuratorin Kathrin Dünser, die das Projekt initiiert hat. Es geht um Schwellenängste, um die Frage, wer sich in einem Museum willkommen fühlt und wer nicht.

Social Prescribing: Ein internationaler Trend

Die Idee, Museumsbesuche als Teil der Gesundheitsförderung zu verstehen, stammt aus Großbritannien. 2014 startete dort das preisgekrönte Pilotprojekt „Museums on Prescription“, das sozial isolierte ältere Menschen mit zehntätigen Museumsprogrammen verband. Forscherinnen und Forscher des University College London und der Canterbury Christ Church University wiesen nach: Die Teilnehmenden zeigten 37 Prozent weniger Hausarztbesuche und 27 Prozent weniger Krankenhauseinweisungen. Für jeden investierten Pfund errechnete man einen sozialen Mehrwert von vier bis elf Pfund.

Mittlerweile ist Social Prescribing ein fester Baustein des britischen National Health Service. In Kanada verschreiben Ärztinnen und Ärzte seit 2018 Besuche im Montreal Museum of Fine Arts, in Frankreich erlaubt das Programm „L’art c’est la santé“ den Zugang zum renommierten Matisse-Museum in Nizza. Belgien, die Schweiz und nun auch die Berliner Charité erproben ähnliche Modelle. Die Weltgesundheitsorganisation wertete 2019 über 3000 Studien aus und kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Kunst und Kulturangebote stärken die psychische und physische Gesundheit.

Der Blickraum als therapeutischer Ort

Im vierten Stock des Vorarlberg Museums befindet sich der sogenannte Blickraum: eine langgestreckte Sitzbank in einem knapp 100 Quadratmeter großen Raum, matt schwarz gehalten, mit Weitwinkelblick auf den Bodensee. Eine Handreichung zum Schauen und Stillschweigen. Hier wird deutlich, was Architektur zur heilenden Wirkung eines Museumsbesuchs beitragen kann. Der Raum schafft einen Rahmen für Kontemplation, der weder therapeutische Absichten aufdrängt noch zur Ablenkung einlädt. Er bietet schlicht: Stille und Weite.

Petra Steger-Adami, Krankenkassenpsychiaterin in Bregenz, behandelt in der Regel schwere Fälle, psychisch kranke Menschen mit kaum vorhandenen finanziellen Reserven. „Museum auf Rezept eröffnet neue Möglichkeiten“, sagt sie. „Meine Patientinnen und Patienten können etwas Neues und Besonderes erleben.“ In einem Museum, so ihre Überlegung, ist man nie ganz allein mit seinen Problemen. Kunst sei oft mit Widerhaken versehen, ein bisschen aus der Mitte gerückt, wie viele ihrer Patientinnen und Patienten.

Kritische Stimmen und berechtigte Fragen

In Bregenz lästern manche, „Museum auf Rezept“ sei ein reiner PR-Coup. Die Kritik ist nicht ganz unberechtigt: Mit 1000 Freikarten erreicht man keine Massentherapie, und die Wirksamkeit kultureller Interventionen lässt sich nicht so präzise messen wie die eines Medikaments. Doch genau hier liegt auch eine Chance. Das Projekt zwingt zur Reflexion darüber, was Gesundheit eigentlich bedeutet und welche Rolle kulturelle Teilhabe dabei spielt.

Alexandra Rümmele-Waibel, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde und Obfrau der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bei der Vorarlberger Ärztekammer, unterstützt das Projekt aus einem einfachen Grund: „Wir unterstützen jede Initiative, die Menschen aus ihren vier Wänden lockt, die sozialem Rückzug und Vereinsamung entgegenwirkt.“ Ihr Befund ist ernüchternd: „Der Blick auf den anderen hat in den vergangenen Jahren nachgelassen.“

Architektur als Katalysator

Philipp Staples, Hausarzt in Hohenems und selbsterklärter „Randgruppen- und Brennpunktarzt“, sieht das Projekt als „Weihnachten und Ostern zugleich“. Er arbeitet täglich mit Menschen, denen jegliche kulturelle Teilhabe weggebrochen ist, die sich zwar in Supermärkten bewegen, aber von einem Museumsbesuch nicht einmal eine Idee haben. „Depressive Akademiker werde ich sicher nicht ins Museum schicken“, sagt er. „Aber für Menschen, die davon nicht einmal eine Idee hatten, ist das wie geschaffen.“

Das Vorarlberg Museum, 2013 in Passivhausqualität errichtet, mit seiner 23 Meter hohen Lehmwand im Inneren und den 2400 Quadratmetern Ausstellungsfläche, wird so zum Katalysator einer gesellschaftlichen Entwicklung. Es geht nicht um spektakuläre Architektur, die sich selbst feiert, sondern um Räume, die Menschen empfangen, die sonst nirgends hingehen. Das ist vielleicht die radikalste Fortschreibung der Vorarlberger Bautradition: Architektur, die heilt, indem sie einlädt.

Ein Modell für andere Regionen?

Das österreichische Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz stellt seit 2021 Mittel für Social Prescribing zur Verfügung. 24 Einrichtungen wurden bislang unterstützt, im Sommer 2025 wurde ein neues Fördervolumen von 4,8 Millionen Euro ausgelobt. Die Charité in Berlin untersucht derzeit im Rahmen eines EU-geförderten Projekts, wie wirksam kulturelle Verschreibungen für vulnerable Gruppen sind. Die Europäische Union fördert das Forschungsvorhaben mit fast sieben Millionen Euro.

Für Vorarlberg könnte „Museum auf Rezept“ der Beginn einer neuen Positionierung sein. Das Land, das für seine Baukultur weltweit Anerkennung findet, könnte zum Labor für die Verbindung von Architektur und Gesundheit werden. Die Infrastruktur ist vorhanden: Das Vorarlberger Architektur Institut in Dornbirn, die wöchentliche Architekturserie in den Vorarlberger Nachrichten, die Gestaltungsbeiräte in vielen kleinen Gemeinden. Was fehlt, ist eine systematische Erforschung dessen, was die gebaute Umwelt zur menschlichen Gesundheit beiträgt.

Die Kunsthistorikerin Nathalie Bondil, ehemalige Direktorin des Museum of Fine Arts in Montreal und heute Leiterin des Institut du Monde Arabe in Paris, formuliert es programmatisch: „Kultur wird im 21. Jahrhundert für unsere Gesundheit das, was Sport im 20. Jahrhundert war.“ Im Vorarlberg Museum kann man dieser Zukunft bereits begegnen. Man muss nur hingehen. Oder sich ein Rezept ausstellen lassen.