
Nordrhein-Westfalens grünes Architekturexperiment
Von der Autostadt zur grünen Metropole
Die Düsseldorfer Innenstadt erzählt eine Geschichte des Wandels, die exemplarisch für Nordrhein-Westfalens Umgang mit dem architektonischen Erbe der Nachkriegszeit steht. Wo bis 2013 der „Tausendfüßler“ das Stadtbild dominierte – jene typische Betonhochstraße der autogerechten Stadtplanung –, wächst heute Europas größte Grünfassade in den Himmel. Der Kö-Bogen II von Ingenhoven Architects markiert einen Paradigmenwechsel, der weit über Düsseldorf hinausstrahlt und zeigt, wie das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschland mit den Herausforderungen des Klimawandels umgeht.
Christoph Ingenhoven, seit Jahrzehnten mit der Neukonzeption des Düsseldorfer Zentrums befasst, verfolgte bereits 1992 die Vision einer großangelegten Stadtreparatur. Was zunächst als lokales Projekt begann, entwickelte sich zu einem Modellfall für klimaresiliente Architektur in nordrhein-westfälischen Ballungsräumen. Das 600 Millionen Euro teure Ensemble vereint 24.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche, 5.500 Quadratmeter Büros und 450 Tiefgaragenstellplätze mit einer revolutionären Fassadenbegrünung aus über 30.000 Hainbuchen.
Regionale Klimaherausforderungen im Rheinland
Die Wahl der Hainbuche als Fassadenbegrünung folgt einer spezifisch regionalen Logik. Professor Karl-Heinz Strauch von der Beuth Hochschule Berlin ermittelte in wissenschaftlichen Testreihen die optimale Pflanzenart für das rheinische Klima. Die heimische Hainbuche erweist sich als besonders resilient gegenüber urbanen Belastungen und benötigt im Winter – anders als immergrüne Arten – kein aktives Bewässerungssystem.
Diese Entscheidung gewinnt angesichts der regionalen Klimadaten zusätzliche Relevanz: Düsseldorfs Jahresmitteltemperatur stieg von 1949 bis 2024 um 1,7 Grad. Die Stadt verzeichnet inzwischen 22 zusätzliche Sommertage und über 380 Sonnenstunden mehr pro Jahr. Bis zum Jahrhundertende könnten die Temperaturen den heutigen Werten von Toulouse entsprechen – Düsseldorfs sogenanntem Klimazwilling.
Das nordrhein-westfälische Klimaanpassungskonzept KAKDUS identifizierte bereits 2017 die Notwendigkeit innerstädtischer Kühlung. Dicht bebaute Ballungsräume wie das Rhein-Ruhr-Gebiet heizen sich durch versiegelte Oberflächen, wärmespeichernde Baumaterialien und mangelnde Luftzirkulation besonders stark auf. Der Kö-Bogen II liefert hierauf eine architektonische Antwort: Die acht Kilometer Hainbuchenhecken wirken als natürlicher Kältespeicher und verhindern, dass sich die Fassade bei Sonneneinstrahlung auf bis zu 70 Grad erhitzt.
Nordrhein-westfälische Planungskultur im Wandel
Das Projekt verdeutlicht die Transformation der nordrhein-westfälischen Planungskultur seit den 1960er Jahren. Wo einst das Dreischeibenhaus (HPP, 1960) und das Schauspielhaus (Bernhard Pfau, 1969) als Ikonen der Nachkriegsmoderne entstanden, schafft Ingenhovens Ensemble einen bewussten Dialog zwischen verschiedenen Architekturepochen. Die abgeschrägten Grünfassaden lassen das Gebäude zwischen Stadt und Park changieren – eine Gestaltungsphilosophie, die der „Land Art“ entlehnt ist.
Cornelia Zuschke, Beigeordnete für Planen, Bauen, Mobilität und Grundstückswesen der Stadt Düsseldorf, betont die städtebauliche Dimension: „Das Projekt verbindet den Hofgarten mit der Königsallee und schafft eine grüne Achse durch die Innenstadt.“ Diese Vernetzungsstrategie entspricht aktuellen Planungsansätzen in NRW-Metropolen, die verstärkt auf grüne Infrastrukturen setzen.
Die Realisierung war jedoch keineswegs konfliktfrei. Noch 2016 blieb unklar, ob das Projekt überhaupt umgesetzt werden könnte. Erst nach zähen Verhandlungen zwischen Stadt, Investoren und Bürgerinitiativen genehmigte der Stadtrat im November 2016 das städtebauliche Vorhaben. Ein Bürgerbegehren gegen den Verkauf des Jan-Wellem-Platzes scheiterte am nötigen Quorum – ein typisches Beispiel für die Herausforderungen groß angelegter Stadtentwicklungsprojekte in NRW.
Technische Innovation und regionale Expertise
Die Fassadenkonstruktion vereint nordrhein-westfälische Ingenieurskunst mit ökologischem Anspruch. Werner Sobek aus Stuttgart übernahm die komplette Fassadenplanung, während das Wuppertaler Unternehmen Leonhards die Pflege der 30.000 Pflanzen sicherstellt. Die Hainbuchen wachsen in speziellen Aluminiumtrögen, die auf einer komplexen Stahlkonstruktion befestigt sind und über ein integriertes Bewässerungssystem verfügen.
Sensoren verhindern sowohl Austrocknung als auch Wasserstau, während Laufstege zwischen den Hecken die Wartung ermöglichen. Das System speist sich primär aus Regenwasser – ein wichtiger Beitrag zum geschlossenen Wasserkreislauf. Drei Mal jährlich erfolgt der Heckenschnitt bewusst als „Lowtech-Lösung“ per Hand, wobei das Schnittgut über die geneigte Fassade in Auffangrinnen rutscht.
Die Investoren der CENTRUM Gruppe und B&L Gruppe schlossen mit der Stadt einen 99-jährigen Pflegevertrag ab – eine in Deutschland ungewöhnlich langfristige Vereinbarung, die die Nachhaltigkeit des Konzepts unterstreicht. Projektleiter Jürgen Mentzel erklärt: „Wir tragen Sorge dafür, dass sich Menschen auch bei Klimaveränderungen gern in der Innenstadt aufhalten.“
Architekturkritik und regionale Rezeption
Die fachliche Bewertung des Projekts fällt durchaus ambivalent aus. Während das internationale Architekturmagazin ArchDaily das Gebäude als vorbildlich für klimaresiliente Stadtentwicklung würdigt, äußern regionale Kollegen Ingenhovens durchaus Kritik. Architekt Walter Brune, Planer der Kö-Galerie und Schadow Arkaden, bezeichnet das Projekt als „nicht innenstadtgerecht“ und zweifelt am langfristigen Funktionieren der Begrünung.
Professor Juan Pablo Molestina kritisiert das Grün als „Alibi-Funktion“, die die Baumasse kaschiere. Marc Böhnke von den „greeen! Architects“ fragt sich, „ob die Bebauung am Ende nicht eine Spur zu massiv ausfällt“. Diese Einwände spiegeln eine typisch nordrhein-westfälische Diskurskultur wider, die zwischen pragmatischen Lösungen und architektonischer Ambition navigiert.
Tatsächlich erfordert die Pflege der vertikalen Gärten erheblichen Aufwand. Viele internationale Projekte dieser Art zeigen bereits nach kurzer Zeit hohen Wartungsbedarf durch welkende Pflanzen, Wind- oder Frostschäden. Das Düsseldorfer Projekt geht diese Herausforderungen mit wissenschaftlich fundierter Planung und langfristigen Wartungsverträgen an – ein Ansatz, der für ähnliche Vorhaben in anderen NRW-Städten modellhaft sein könnte.
Übertragbarkeit und Zukunftsperspektiven
Vier Jahre nach der Fertigstellung lässt sich eine erste Bilanz ziehen: Das System funktioniert. Die Hainbuchen haben sich etabliert, zeigen jahreszeitliche Farbwechsel und erfüllen ihre klimatische Funktion. Das Gebäude erhielt die höchstmögliche DGNB-Zertifizierung Platin und wurde mit dem Prix Versailles ausgezeichnet. Die Einzelhandelsflächen sind zu 75 Prozent vermietet, regelmäßige Kulturveranstaltungen beleben den Gustaf-Gründgens-Platz.
Dennoch bleiben Fragen der Übertragbarkeit. Die Kosten für Fassadenbegrünungen liegen bei 400 bis 1.000 Euro pro Quadratmeter – ein Vielfaches herkömmlicher Fassadensysteme. In Deutschland wurden 2018 lediglich 15.000 Quadratmeter Fassadenfläche neu begrünt, während 7,2 Millionen Quadratmeter Dachflächen begrünt wurden.
Für kleinere nordrhein-westfälische Kommunen mit begrenzten Budgets erscheint die Düsseldorfer Lösung kaum finanzierbar. Hier zeigt sich ein typisches Problem des Bundeslandes: Die Schere zwischen finanzstarken Oberzentren und strukturschwachen Regionen erschwert die flächendeckende Umsetzung innovativer Klimaanpassungsstrategien.
Nordrhein-Westfalen als Versuchslabor
Der Kö-Bogen II steht exemplarisch für Nordrhein-Westfalens Rolle als Versuchslabor nachhaltiger Stadtentwicklung. Das Bundesland vereint verschiedene urbane Strukturen – von der Rheinschiene über das Ruhrgebiet bis zu ländlichen Regionen – und bietet damit ideale Voraussetzungen für differenzierte Lösungsansätze.
Christoph Ingenhovens „supergreen®“-Philosophie, ein ganzheitliches Nachhaltigkeitskonzept, das sich permanent weiterentwickelt, könnte wegweisend für die Transformation des Gebäudebestands werden. Angesichts der Klimaziele des Landes – bis 2045 klimaneutral – sind innovative Ansätze wie der Düsseldorfer dringend erforderlich.
Das Projekt zeigt aber auch die Grenzen marktorientierter Lösungen auf. Während Prestige-Immobilien wie der Kö-Bogen II internationale Aufmerksamkeit erhalten, bleiben alltägliche Herausforderungen des Wohnungsbaus oder der Sanierung von Nachkriegssiedlungen weitgehend ungelöst. Hier bedarf es ergänzender Strategien, die über spektakuläre Einzelprojekte hinausgehen.
Die Düsseldorfer Erfahrungen liefern dennoch wichtige Erkenntnisse für die nordrhein-westfälische Baukultur: Langfristige Planung, wissenschaftliche Fundierung und verbindliche Wartungskonzepte erweisen sich als Schlüsselfaktoren erfolgreicher Fassadenbegrünung. Ob sich daraus eine neue regionale Bautradition entwickelt, wird die Zukunft zeigen.
Weitergehende Informationen
Fachpublikationen und Studien
-
KAKDUS – Klimaanpassungskonzept für die Landeshauptstadt Düsseldorf (2017): Grundlagenstudie zu regionalen Klimaherausforderungen
-
Klimaanalyse 2020 Düsseldorf: Detaillierte Untersuchung zu urbanen Hitzeinseln im Rheinland
-
Deutscher Nachhaltigkeitspreis Architektur: Dokumentation der Nominierung 2021 mit Fachjury-Bewertung
-
DGNB-Zertifizierung Kö-Bogen II: Vollständige Nachhaltigkeitsbewertung nach deutschen Standards
Monitoring und Evaluation
-
Zentrum KlimaAnpassung: Bundesweite Beratungsstelle mit Praxisbeispielen
-
Climate-KIC Deutschland: Europäisches Innovationsnetzwerk für Klimatechnologien
-
Wuppertal Institut: Forschung zu nachhaltiger Stadtentwicklung und Klimaanpassung
-
Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften: Politikberatung zu Klimaanpassungsstrategien
Kritische Perspektiven und Diskurse
-
Deutsches Architekturmuseum: Sammlung kritischer Texte zu „Green Architecture“
-
ARCH+ Zeitschrift: Theoretische Reflexionen zu Nachhaltigkeit und Architektur
-
Bauwelt: Fachkritik zu aktuellen Großprojekten
-
Bundesstiftung Baukultur: Baukulturberichte mit regionalen Schwerpunkten

Baubranche im Sturzflug: Wie Drohnen-Maurer die Industrie aufmischen

„Tesla Social Housing“ – Wenn Gigafabriken zu Gigahäusern werden
