Baukunst - Die Wiener Malaise: Wenn Bauverfahren zu Existenzbedrohung werden
Wien © Anton/Unsplash

Die Wiener Malaise: Wenn Bauverfahren zu Existenzbedrohung werden

27.05.2025
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Ignatz Wrobel

Verfahrensdauer als berufspolitischer Sprengstoff

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 33 Prozent der Baugenehmigungen in Wien dauern länger als zwölf Monate. Was zunächst nach einer bürokratischen Petitesse klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als fundamentale Bedrohung für die gesamte Zunft der Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker. Bernhard Sommer, Präsident der Kammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland, bringt die Dramatik auf den Punkt: Bis zu 400 Wohnungen würden in Wien „auf diese Weise pro Jahr verloren gehen“.

Diese Entwicklung markiert eine entscheidende Zäsur in der berufspolitischen Landschaft. Was als verwaltungstechnisches Problem beginnt, mutiert zur existenziellen Herausforderung für Planende und Bauherren gleichermaßen. Die Kammer der Ziviltechnikerinnen sieht sich mit einer Situation konfrontiert, die weit über die üblichen Honorardebatten hinausgeht – hier geht es um die Substanz des Berufsstandes.

Strukturelle Defizite der Wiener Verwaltung

Während in Niederösterreich und der Steiermark die Digitalisierung der Bauverfahren längst Einzug gehalten hat, scheint Wien im analogen Zeitalter stecken geblieben zu sein. Diese Beobachtung offenbart ein grundlegendes Problem der Wiener Bauverwaltung: Die MA37 operiert noch immer mit Verfahren, die der Komplexität moderner Bauprojekte nicht mehr gewachsen sind.

Die Ursachen sind vielschichtig. Personalmangel in den zuständigen Magistratsabteilungen trifft auf veraltete Arbeitsabläufe. Gleichzeitig führen komplexe Abstimmungsprozesse zwischen verschiedenen Dienststellen zu Verzögerungen, die in ihrer Kumulation oft absurde Ausmaße annehmen. Ein Circulus vitiosus entsteht: Längere Verfahren bedeuten mehr parallele Verfahren, was die Kapazitäten der Behörde weiter belastet.

Wirtschaftliche Konsequenzen für den Berufsstand

Die Auswirkungen treffen die Ziviltechnikerinnen und Ziviltechniker mit voller Wucht. Verlängerte Planungsphasen bedeuten nicht nur höhere Kosten, sondern auch erhebliche Liquiditätsprobleme. Kleinere Büros geraten unter Druck, wenn Projekte sich über Jahre hinziehen und Honorarzahlungen entsprechend verzögert werden.

Besonders prekär wird die Situation bei Ausnahmegenehmigungen nach §69 der Wiener Bauordnung – Verzögerung mindestens ein halbes Jahr, meistens sogar weit länger. Hier entstehen nicht nur Mehrkosten, sondern auch rechtliche Unsicherheiten, die das unternehmerische Risiko für Planende dramatisch erhöhen.

Politische Versäumnisse und Reformblockaden

Die berufspolitische Dimension dieser Krise wird durch das Verhalten der Wiener Stadtregierung verschärft. Von der künftigen Wiener Stadtregierung wünscht sich die Ziviltechnikerkammer „eine deutliche Priorisierung des Themas Verfahrensverkürzung“. Dieser Appell verdeutlicht die Frustration der Berufsvertretung über jahrelange Untätigkeit.

Elisabeth Olischar von der Wiener Volkspartei erkennt die Brisanz der Situation und fordert nicht nur schnellere Verfahren, sondern auch eine komplette Neuausrichtung und -formulierung der Bauordnung. Die politische Landschaft zeigt sich jedoch träge – unterschiedliche Parteiinteressen und Lobbygruppen verzögern notwendige Reformen.

Digitalisierung als Lösungsansatz

Städte wie München oder Zürich haben deutlich effizientere Prozesse etabliert. Dort werden Baugenehmigungen in wenigen Monaten erteilt, was Investoren anzieht und die Stadtentwicklung fördert. Diese Beispiele zeigen, dass technische Lösungen existieren – der politische Wille zu deren Umsetzung fehlt jedoch in Wien.

Die Implementierung digitaler Verfahren würde nicht nur Geschwindigkeit bringen, sondern auch Transparenz schaffen. Antragstellende könnten den Status ihrer Verfahren online verfolgen, was Planungssicherheit für Ziviltechnikerinnen und Bauherren bedeuten würde.

Vereinfachte Verfahren als ungenutzte Chance

Das Baubewilligungsverfahren nach §70a der Wiener Bauordnung war ursprünglich dazu gedacht, die MA37 zu entlasten und Geld einzusparen. In der Praxis spielt diese Einreichung bis heute eine sehr untergeordnete Rolle. Diese Beobachtung illustriert ein grundsätzliches Problem: Reformansätze werden entwickelt, aber nicht konsequent implementiert oder beworben.

Die Verantwortung für vereinfachte Verfahren liegt vollständig bei den Ziviltechnikerinnen – ein Vertrauensbeweis, der jedoch nicht entsprechend genutzt wird. Hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen behördlicher Kontrolle und professioneller Selbstverantwortung.

Berufspolitische Strategien der Kammer

Präsident Bernhard Sommer positioniert die Kammer als aktive Lobbyplattform, die systematisch für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. „Wie kaum andere Bereiche werden Baukunst und Technik die wesentlichen Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Zusammenleben, Chancengleichheit, Gesundheit – geben müssen und können. Ziviltechniker:innen kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen stärker gehört werden!“

Diese Positionierung verdeutlicht den strategischen Ansatz der Kammer: Die Problematik wird nicht als isoliertes Verwaltungsproblem dargestellt, sondern in den größeren Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen eingebettet.

Kollateralschäden für die Stadtentwicklung

Die verzögerten Bauverfahren haben gesellschaftliche Konsequenzen, die weit über den Berufsstand hinausreichen. Jede nicht realisierte Wohnung verschärft die Wohnungskrise, jedes verhinderte Gewerbeprojekt bremst die wirtschaftliche Entwicklung. Wien läuft Gefahr, seine Position als dynamische Metropole zu verlieren.

Ausblick und Forderungen

Die Kammer muss ihre berufspolitische Strategie neu ausrichten. Statt reaktiver Beschwerden braucht es proaktive Reformvorschläge. Die Digitalisierung der Bauverfahren sollte nicht nur gefordert, sondern aktiv mitgestaltet werden. Ziviltechnikerinnen verfügen über die fachliche Kompetenz, um Verfahren zu optimieren – diese Expertise muss in den politischen Prozess eingebracht werden.

Gleichzeitig gilt es, die Öffentlichkeit für die Problematik zu sensibilisieren. Nur wenn die gesellschaftlichen Kosten verzögerter Bauverfahren sichtbar werden, entsteht der politische Druck für nachhaltige Reformen.

Die Wiener Malaise ist mehr als ein lokales Problem – sie steht exemplarisch für die Herausforderungen des Berufsstandes in einer zunehmend regulierten Welt. Die Antwort darauf kann nur eine offensive berufspolitische Strategie sein, die Fachkompetenz mit politischem Gestaltungswillen verbindet.