Baukunst - Goldener Löwe für amerikanische Visionäre: Architektur als Umweltexperiment
Canal Café © Marco Zorzanello ; Courtesy :La Biennale di Venezia

Goldener Löwe für amerikanische Visionäre: Architektur als Umweltexperiment

18.06.2025
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Ignatz Wrobel

Canal Café © Marco Zorzanello ; Courtesy :La Biennale di Venezia

Ein letzter Triumph für Ricardo Scofidio: Diller Scofidio + Renfro gewinnt Goldenen Löwen in Venedig

Zwei Monate nach dem Tod des Firmengründers Ricardo Scofidio erhält das New Yorker Studio die höchste Auszeichnung der Architektur Biennale für ein Projekt, das Kanalwasser zu Espresso verwandelt.

Ein poetisches Vermächtnis am Arsenale

Am 10. Mai 2025 wurde Diller Scofidio + Renfro mit dem Goldenen Löwen für die beste Teilnahme an der internationalen Ausstellung der Architektur Biennale Venedig ausgezeichnet. Ihr Projekt „Canal Café“ verwandelt verschmutztes Kanalwasser aus der Arsenale-Lagune in einen perfekten italienischen Espresso. Es ist ein bittersüßer Moment der Anerkennung, der nur zwei Monate nach dem Tod von Ricardo Scofidio erfolgt, dem visionären Mitbegründer des Studios, der am 6. März 2025 im Alter von 89 Jahren verstarb.

Das Canal Café verkörpert auf geradezu poetische Weise jene Philosophie, die Scofidio zeit seines Lebens verfolgte: die Grenzen zwischen Kunst und Architektur zu verwischen und alltägliche Handlungen in Momente der Reflexion zu verwandeln. „Wir greifen mit diesem Rohr in den Kanal hinein“, erklärte Elizabeth Diller, Scofidios Lebens- und Arbeitspartnerin, bei der Eröffnung des Projekts. „Wir pumpen das Wasser hoch und reinigen es vor Ihren Augen.“

Alchemie der Transformation

Die Installation am Rande des Arsenale-Komplexes ist mehr als nur ein architektonisches Experiment – sie ist eine Meditation über Venedigs existenzielle Herausforderungen. Das Projekt kombiniert einen ausgeklügelten Reinigungsprozess, der die natürlichen Kläreffekte von Gezeitenfeuchtgebieten nachahmt, mit einem System aus Biofilterung und UV-Behandlung. Das Ergebnis ist nicht nur trinkbares Wasser, sondern ein Manifest für nachhaltiges Leben auf dem Wasser.

Michelin-Stern-Koch Davide Oldani hat die perfekte Kaffeeröstung ausgewählt, während die Ingenieursfirmen Natural Systems Utilities und SODAI die technischen Komponenten entwickelten. Die Jury würdigte das Projekt als „Demonstration dafür, wie die Stadt Venedig als Labor dienen kann, um zu spekulieren, wie man auf dem Wasser leben kann, während es gleichzeitig einen Beitrag zum öffentlichen Raum Venedigs leistet.“

Der Verlust eines Visionärs

Ricardo Scofidio verstarb am 6. März 2025 friedlich im Kreise seiner Familie, umgeben von seiner Partnerin Elizabeth Diller. Sein Tod markiert das Ende einer Ära für die amerikanische Architektur. Geboren 1935 in New York als Sohn eines schwarzen Jazzmusikers, der sich als Italiener ausgab, um Rassismus zu entgehen, prägte Scofidio eine Generation von Architekten mit seinem interdisziplinären Ansatz.

Gemeinsam mit Diller erhielt er 1999 als erster Architekt überhaupt ein MacArthur Fellowship, das sogenannte „Genie-Stipendium“. Ihre frühen Arbeiten – von der Verkehrskegel-Installation „Traffic“ am Columbus Circle 1981 bis zum nebelverhüllten „Blur Building“ in der Schweiz 2002 – revolutionierten das Verständnis davon, was Architektur sein kann.

Von der Avantgarde zum Mainstream

Das Studio, das 1981 in einem schäbigen Apartment in der East Village begann, entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Architekturbüros der Welt. Die High Line, jener 2009 eröffnete lineare Park auf einer stillgelegten Güterzugstrecke in Manhattan, katapultierte Diller und Scofidio endgültig ins internationale Bewusstsein. Das Projekt löste nicht nur eine globale Begeisterung für erhöhte Gehwege aus, sondern transformierte auch Manhattan’s West Side nachhaltig.

Charles Renfro, der 1997 zum Studio stieß und 2004 Partner wurde, sowie Benjamin Gilmartin, der 2015 Partner wurde, führten das Erbe fort. Heute beschäftigt Diller Scofidio + Renfro über 100 Mitarbeiter und realisiert Projekte von der Erweiterung des Museum of Modern Art bis hin zu The Shed in Hudson Yards.

Architektur als Lebensexperiment

Das Canal Café verkörpert jene experimentelle Haltung, die Scofidio zeit seines Lebens antrieb. Ursprünglich war das Projekt bereits für die Biennale 2008 geplant, konnte aber damals aufgrund fehlender Genehmigungen nicht realisiert werden. Erst verbesserte Filtertechnologie und veränderte Vorschriften machten es möglich, 17 Jahre später Kanalwasser zu servieren.

Die Ironie ist bemerkenswert: Während Venedig mit dem MOSE-Projekt ein hochmodernes Hochwasserschutzsystem installiert hat, das die Lagune möglicherweise dauerhaft von der Adria abschotten könnte, demonstriert DS+R mit seinem Café, wie Technologie das kostbarste Gut der Erde – Wasser – reinigen und zugänglich machen kann.

Geschmack der Erinnerung

Jeder Espresso, der im Canal Café serviert wird, trägt den mineralischen Geschmack der venezianischen Geschichte in sich – von den Jahrhunderten des Handels über die Jahre der Verschmutzung bis hin zur Hoffnung auf eine nachhaltige Zukunft. Es ist ein flüssiges Monument für Scofidios Vision einer Architektur, die nicht nur Räume schafft, sondern Bewusstsein für unsere Beziehung zur Umwelt weckt.

Die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen ehrt nicht nur ein herausragendes Projekt, sondern auch das Vermächtnis eines Mannes, der Architektur als Kunstform und gesellschaftliches Experiment verstand. In einer Zeit, in der Klimawandel und Urbanisierung neue Antworten fordern, zeigt das Canal Café, dass die radikalsten Lösungen oft in den einfachsten Gesten liegen – einem perfekten Espresso, gebraut aus den Wassern einer schwimmenden Stadt.

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