Baukunst-Graue Energie statt Abrissbirne – Warum Sanierung die bessere Revolution ist
Hannover © Joshua Kettle/Unsplash

Graue Energie statt Abrissbirne – Warum Sanierung die bessere Revolution ist

27.07.2025
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Claudia Grimm

Wenn Pferde zu Büchern werden: Die Transformation des Marstalls der Leibniz Universität Hannover

In Hannovers Nordstadt, wo einst die Pferde der Welfenkönige ihre Hufe auf das Kopfsteinpflaster setzten, blättern heute Studierende in jahrhundertealten Folianten. Die denkmalgerechte Sanierung des Marstallgebäudes der Leibniz Universität Hannover zeigt exemplarisch, wie historische Bausubstanz mit zeitgemäßer Nutzung in Einklang gebracht werden kann – ohne die Seele des Ortes zu verlieren.

Vom königlichen Marstall zum akademischen Refugium

Das 1867 errichtete Marstallgebäude am Welfengarten gehört zu jenen Bauten, die Hannovers bewegte Geschichte zwischen Königreich und Moderne verkörpern. Als Teil des ehemaligen Welfenschlosses – heute Hauptgebäude der Leibniz Universität – diente der langgestreckte Backsteinbau über ein Jahrhundert der Unterbringung königlicher und später universitärer Pferde. Die klassizistische Fassade mit ihren charakteristischen Rundbogenfenstern und der rhythmischen Gliederung prägt bis heute das Ensemble am Welfengarten.

Die Transformation vom Pferdestall zum Lesesaal markiert nicht nur einen Funktionswandel, sondern auch einen Paradigmenwechsel im Umgang mit historischer Bausubstanz in Niedersachsen. Während vergleichbare Projekte in anderen Bundesländern oft zu Gunsten maximaler Flächenausnutzung auf historische Raumstrukturen verzichten, zeigt das hannoversche Beispiel einen sensibleren Weg.

Denkmalschutz trifft digitale Moderne

Die Herausforderung bei der Sanierung lag in der Quadratur des Kreises: Wie lässt sich ein Gebäude des 19. Jahrhunderts in einen modernen Universitätslesesaal verwandeln, ohne seine denkmalgeschützte Substanz zu kompromittieren? Das Planungsteam um die hannoverschen Architekten entwickelte ein Konzept, das auf drei Säulen ruht: Reversibilität, Sichtbarkeit und Funktionalität.

Die originale Raumstruktur mit ihren charakteristischen Kreuzgratgewölben blieb vollständig erhalten. Neue Einbauten wurden als erkennbar zeitgenössische Elemente konzipiert, die sich reversibel in den Bestand einfügen. Stahlkonstruktionen in anthrazitgrauer Pulverbeschichtung nehmen die Bücherregale und Arbeitstische auf, ohne die historischen Wände zu berühren. Diese “Möblierung im Großmaßstab” ermöglicht es, den Raum bei Bedarf wieder in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen – ein Ansatz, der in der niedersächsischen Denkmalpflege zunehmend Schule macht.

Technische Innovation im historischen Gewand

Die Integration moderner Haustechnik stellte die Planerinnen und Planer vor besondere Herausforderungen. Die niedersächsische Denkmalschutzbehörde forderte zu Recht minimale Eingriffe in die historische Substanz. Die Lösung: Ein innovatives Klimakonzept, das die thermische Masse des Mauerwerks nutzt und mit einer Bauteilaktivierung kombiniert.

Über reversible Bodenkanäle wird die Frischluft zugeführt, während die Abluft über die historischen Fensteröffnungen abgeführt wird – ein System, das ohne sichtbare Lüftungskanäle auskommt. Die LED-Beleuchtung wurde in die neuen Stahlkonstruktionen integriert und ergänzt das natürliche Licht, das durch die sorgfältig restaurierten Fenster fällt. Diese technische Zurückhaltung entspricht dem Geist des Ortes: Die Technik dient, dominiert aber nicht.

Raumgestaltung zwischen Tradition und Moderne

Die Innenraumgestaltung folgt einem klaren Konzept: Die historische Hülle bildet den ruhigen Hintergrund für die moderne Nutzung. Die Farbpalette beschränkt sich auf die natürlichen Töne des Backsteins, das Anthrazit der Stahlkonstruktionen und das warme Holz der Arbeitsflächen. Diese Reduktion schafft eine kontemplative Atmosphäre, die dem Studium förderlich ist.

Besonders gelungen ist die Zonierung des langgestreckten Raums. Durch die geschickte Platzierung der Regale entstehen intimere Arbeitsbereiche, ohne die Großzügigkeit des Raums zu zerstören. Die historischen Pferdeboxen wurden teilweise erhalten und dienen nun als abgeschirmte Einzelarbeitsplätze – eine charmante Reminiszenz an die ursprüngliche Nutzung.

Nachhaltigkeit als Leitmotiv

Die Sanierung des Marstalls steht exemplarisch für einen Paradigmenwechsel in der niedersächsischen Baupolitik. Während das Land lange auf Neubau setzte, rückt zunehmend die Ertüchtigung des Bestands in den Fokus. Die graue Energie, die in den massiven Backsteinmauern gespeichert ist, rechtfertigt jeden Aufwand zur Erhaltung.

Das Projekt zeigt, dass Denkmalschutz und Energieeffizienz keine Gegensätze sein müssen. Durch die sorgfältige Innendämmung, die Ertüchtigung der historischen Fenster und das intelligente Haustechnikkonzept erreicht das Gebäude moderne Energiestandards. Die Photovoltaikanlage auf dem Flachdach des rückwärtigen Anbaus – vom Welfengarten aus nicht sichtbar – trägt zur positiven Energiebilanz bei.

Regionale Strahlkraft und Modellcharakter

Das Projekt hat über Hannover hinaus Beachtung gefunden. Die Architektenkammer Niedersachsen würdigte die Sanierung als beispielhaft für den Umgang mit denkmalgeschützter Bausubstanz. Besonders in Zeiten knapper öffentlicher Kassen zeigt das Projekt, dass qualitätvolle Sanierung nicht teurer sein muss als Abriss und Neubau – wenn sie intelligent geplant wird.

Für die Region Hannover, die sich als Wissenschaftsstandort positioniert, ist der neue Lesesaal mehr als nur ein funktionaler Raum. Er verkörpert das Selbstverständnis einer Universität, die ihre Geschichte achtet und gleichzeitig in die Zukunft blickt. Die gelungene Verbindung von Denkmalschutz und moderner Nutzung könnte Vorbild für ähnliche Projekte in anderen niedersächsischen Hochschulstädten werden – etwa in Göttingen, Braunschweig oder Oldenburg, wo vergleichbare Herausforderungen warten.

Lehren für die Zukunft

Die Transformation des Marstalls lehrt uns, dass nachhaltige Architektur nicht bei der Energiebilanz endet. Sie umfasst auch den respektvollen Umgang mit baukulturellen Werten und die Fähigkeit, Geschichte weiterzuerzählen. In Zeiten, in denen die Bauwirtschaft für 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich ist, wird die Ertüchtigung des Bestands zur moralischen Verpflichtung.

Das hannoversche Beispiel zeigt: Wenn Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger, Architektinnen und Architekten sowie Bauherren an einem Strang ziehen, entstehen Räume, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Sie werden zu Orten, an denen sich Vergangenheit und Zukunft begegnen – und wo aus Pferdeställen Kathedralen des Wissens werden.