
Zwischen Bewahrung und Wandel: Hessens Weg im Umgang mit historischer Bausubstanz
Die Frage, wie mit historischer Bausubstanz umgegangen werden soll, bewegt Hessen derzeit intensiver denn je. Während das Altarhaus im Staatspark Fürstenlager nach 66 Jahren Abwesenheit wieder in seinem ursprünglichen Glanz erstrahlt, ringen Planerinnen und Denkmalpfleger in Bad Nauheim mit der komplexen Sanierung des Sprudelhofs. Gleichzeitig entstehen in Frankfurt “schöpferische Nachbauten” einer Altstadt, die nie wirklich existierte. Diese drei Projekte verdeutlichen exemplarisch die Bandbreite heutiger Rekonstruktionsansätze – und zeigen, dass es die eine richtige Lösung nicht gibt.
Klimaschutz trifft Denkmalschutz: Ein Paradigmenwechsel
Das Landesamt für Denkmalpflege Hessen vollzieht seit 2023 einen bemerkenswerten Kurswechsel. Mit der Projektgruppe “Denkmalschutz – Klimaschutz” stellt sich die Behörde erstmals systematisch der Herausforderung, historische Gebäude energetisch zu ertüchtigen, ohne ihre Substanz zu gefährden. “Früher war das ein Widerspruch, heute ist es eine Notwendigkeit”, bringt es ein Sprecher des Amtes auf den Punkt.
Diese neue Herangehensweise zeigt sich praktisch am Beispiel der Städtebaulich-Denkmalpflegerischen Aufnahme in Idstein. Hier wurden gezielt Dachflächen für Solaranlagen ermittelt – ein Ansatz, der vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Die Methode beschleunigt nicht nur Genehmigungsverfahren, sondern schafft auch Planungssicherheit für Eigentümer historischer Gebäude.
Das Altarhaus: Rekonstruktion als Zeitreise
Im Staatspark Fürstenlager entstand ein kleines Wunder der Rekonstruktionskunst. Das 1918 abgetragene Altarhaus wurde auf Basis historischer Baupläne von 1857 und einer Gouache von 1848 wieder aufgebaut. Die Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen ließen dabei historische Handwerkstechniken mit modernem ökologischem Bauwissen verschmelzen.
Lehm und Kalk bestimmen das Bild, während die Wegeführung nach Plänen des späten 18. Jahrhunderts rekonstruiert wird. Das Projekt zeigt: Rekonstruktion kann mehr sein als nostalgische Verklärung – sie kann Kulturdenkmal und Landschaftskonzeption in ihrer ursprünglichen Einheit wieder erlebbar machen.
Frankfurt: Die erfundene Altstadt
Völlig anders präsentiert sich das Dom-Römer-Projekt in Frankfurt. Hier entstanden 35 Neubauten, darunter 15 “schöpferische Nachbauten” wie das Haus zur Goldenen Waage. Eine eigens erlassene Gestaltungssatzung schrieb steile Satteldächer und regionaltypische Materialien vor – Sandstein, Basaltlava, Naturschiefer. Die Baukosten explodierten entsprechend.
Das Ergebnis ist architektonisch umstritten, städtebaulich jedoch erfolgreich. Die neue Altstadt funktioniert als urbaner Raum und macht gleichzeitig den Archäologischen Garten mit römischen und karolingischen Überresten zugänglich. Hier zeigt sich Rekonstruktion als bewusste Inszenierung von Geschichte für die Gegenwart.
Bad Nauheim: Komplexität als Programm
Der Sprudelhof in Bad Nauheim gilt derzeit als Hessens wichtigste Denkmalbaustelle. Seit 2020 wird das Jugendstil-Areal grundlegend saniert – ein Kraftakt, der die ganze Bandbreite denkmalpflegerischer Herausforderungen offenlegt. Badehaus 2 ist bereits fertiggestellt und mit einem modernen Thermen-Neubau verbunden. Die anderen ehemaligen Badehäuser werden für Reha-Einrichtungen, Veranstaltungslocations und eine Krankenpflegeakademie hergerichtet.
Das Projekt verdeutlicht die Schwierigkeit, prunkvoll ausgestattete Gebäude behutsam zu restaurieren und gleichzeitig technisch zu modernisieren. Jeder Eingriff erfordert intensive Abstimmung zwischen Bauhandwerk und Denkmalpflege – ein zeitaufwändiger, aber notwendiger Prozess.
Paulskirche: Die bewusste Neuinterpretation
Die Frankfurter Paulskirche steht für einen dritten Weg im Umgang mit zerstörter historischer Substanz. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied sich die “Planungsgemeinschaft Paulskirche” bewusst gegen eine kopierende Rekonstruktion. Stattdessen entstand eine Interpretation, die nach eigener Aussage “wahrscheinlich mehr Grösse und Innerlichkeit hat als der seinerzeitige klassizistische Bau”.
Diese “reine und arme Gestalt” sollte den Willen zum Aufbau einer besseren Ordnung symbolisieren. Aktuelle Sanierungsmaßnahmen zeigen, dass auch Interpretationen geschichtlicher Bauwerke denkmalpflegerische Sorgfalt erfordern.
Neue Standards für alte Steine
Auch die Bodendenkmalpflege passt sich an moderne Anforderungen an. Zum Jahresbeginn 2025 traten überarbeitete Richtlinien für die Archäologie in Hessen in Kraft. Sie betreffen Langzeitarchivierung, räumliche Grabungsdokumentation und Fundverwaltung – ein scheinbar technisches Detail, das jedoch entscheidend für den Schutz des archäologischen Erbes ist.
Baukultur im Bestand: Der Preis als Programm
Der Hessische Landespreis Baukultur 2025 unter dem Motto “ZUSAMMEN UmGEBAUT” unterstreicht die aktuelle Relevanz der Bestandsentwicklung. Bauminister Kaweh Mansoori betont: Die innovative Nachnutzung bestehender Gebäude spare wertvolle Ressourcen, erhalte historische Identitäten und schaffe gleichzeitig neue Räume für Handel, Gastronomie oder Kultur.
Projekte mussten bis zum 30. April 2025 eingereicht werden – eine Frist, die zeigt, wie dynamisch sich das Feld derzeit entwickelt.
Zwischen Authentizität und Pragmatismus
Die hessischen Beispiele verdeutlichen: Es gibt nicht den einen richtigen Umgang mit historischer Bausubstanz. Das Altarhaus im Fürstenlager steht für akribische Rekonstruktion, Frankfurt für interpretative Neubauung, Bad Nauheim für komplexe Sanierung und die Paulskirche für bewusste Neuinterpretation.
Entscheidend ist die jeweilige Begründung. Wo historische Quellen eine präzise Rekonstruktion ermöglichen und das Ergebnis kulturell wertvoll ist, kann sie gerechtfertigt sein. Wo Ensemblewirkung wichtiger ist als Authentizität im Detail, können “schöpferische Nachbauten” funktionieren. Und wo die symbolische Bedeutung über der baulichen steht, darf Interpretation vor Rekonstruktion gehen.
Das Hessische Denkmalschutzgesetz verlangt, dass Veränderungen “idealerweise reversibel” sein sollen. Ein kluger Grundsatz, der jedoch in der Praxis oft an finanzielle und technische Grenzen stößt. Umso wichtiger wird die sorgfältige Abwägung im Einzelfall.
Ausblick: Denkmalschutz als Zukunftsaufgabe
Die Integration von Klimaschutz und Denkmalschutz wird die nächsten Jahre prägen. Hessen geht hier mit der Projektgruppe “Denkmalschutz – Klimaschutz” einen beispielhaften Weg. Modellprojekte, Handreichungen und beschleunigte Genehmigungsverfahren sollen Synergien schaffen.
Die Städtebaulich-Denkmalpflegerische Aufnahme, die bis 2026 ausgeweitet wird, zeigt einen Weg zur Entbürokratisierung. Statt jeden Einzelfall neu zu verhandeln, schafft sie Planungsgrundlagen für ganze Ortsbereiche.
Der Umgang mit historischer Bausubstanz bleibt eine Gratwanderung zwischen Bewahrung und Veränderung. Hessen zeigt exemplarisch, dass diese Gratwanderung gelingen kann – wenn Denkmalpflege, Planerinnen und Eigentümer gemeinsam nach Lösungen suchen, die der Geschichte gerecht werden und gleichzeitig zukunftsfähig sind.

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