
Alte Bauweisheit für die Klimawende
In einer Zeit, in der Energieeffizienz und CO2-Neutralität zu zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen geworden sind, richtet das Freilichtmuseum Molfsee den Blick zurück, um Lösungen für die Zukunft zu finden. Die aktuelle Sonderausstellung „Wohltemperiert. Für klimagerechte Architektur!“ rückt traditionelle Bauformen in den Mittelpunkt und untersucht ihre Relevanz für zeitgemäßes nachhaltiges Bauen.
Von der Vergangenheit lernen
Die vom 15. November 2024 bis zum 2. November 2025 laufende Ausstellung stellt eine einfache, aber weitreichende Frage: Wie haben unsere Vorfahren ohne komplexe Technik angenehme Raumtemperaturen geschaffen? Die Antwort liegt in der sogenannten vernakulären Architektur – einer Bauweise, die auf lokalen Traditionen, Materialien und Klimabedingungen basiert und über Generationen hinweg perfektioniert wurde.
„Ein Kaminfeuer wird im Winter zum Zentrum des Hauses. Eine abgehängte Decke verkleinert einen Raum, der so besser beheizt werden kann. Eine Schlafgelegenheit wie ein Alkoven hält Körperwärme“, erklärt die Ausstellung und identifiziert damit drei zentrale Prinzipien der traditionellen Wärmeregulierung: den Hot Spot, die räumliche Verdichtung und den Kokon-Effekt.
Ein Atlas traditioneller Baukunst
Herzstück der Schau sind über 50 Beispiele traditioneller Baukultur aus ganz Europa, zusammengestellt von verschiedenen Architektinnen und Architekten. Diese werden anhand von Fotos und Texten präsentiert und nach baulichen Prinzipien kategorisiert, wodurch ein umfassender „Atlas“ klimagerechter Bautraditionen entsteht.
Bemerkenswert ist die Herkunft der Ausstellung: Ursprünglich wurde sie vom Architekturmuseum in Ljubljana (MAO) konzipiert und 2023 im Slowenischen Pavillon der Architektur-Biennale in Venedig präsentiert. Federführend waren neben dem MAO zwei aufstrebende Architekturbüros aus Ljubljana. Die Präsentation in Molfsee bietet jedoch einen entscheidenden Mehrwert: Hier können Besucherinnen und Besucher unmittelbar eine Brücke zu den historischen Gebäuden im Freigelände schlagen und die theoretischen Konzepte in der praktischen Umsetzung erleben.
Praxisnahe Vermittlung
Um das Thema lebendig zu vermitteln, bietet das Museum ein Booklet mit Quiz an, das dazu einlädt, die Ausstellungsthemen in den historischen Häusern zu vertiefen. Dies schafft einen interaktiven Zugang zur Thematik und regt zum Nachdenken über zukünftige Wohnformen an.
Architektonischer Dialog: Das Jahr100Haus
In bemerkenswertem Kontrast zu den historischen Bauten steht das neue Eingangs- und Ausstellungsgebäude des Museums – das sogenannte Jahr100Haus. 2021 eröffnet und für 13,3 Millionen Euro errichtet, stellt es selbst ein Paradebeispiel für die gelungene Verbindung von Tradition und zeitgenössischer Architektur dar.
Entworfen vom Lübecker Architekturbüro petersen pörksen partner, reflektiert das Gebäude mit seinen extrem hohen Dächern und sehr niedrigen Traufen die typische regionale Architektur auf moderne Weise. „Uns war es sehr wichtig, das sehr große Raumprogramm in die Maßstäblichkeit des Umfelds zu integrieren“, erläutert Architekt Klaus-H. Petersen. Das gigantische hölzerne Tragwerk der Neubaudächer ist von traditionellen Zimmermann-Konstruktionen inspiriert, kommt jedoch ohne Ständer und Querbalken aus – eine zeitgemäße Interpretation historischer Baukunst.
Material mit Geschichte
Besonders bemerkenswert ist die Materialwahl: Die Dacheindeckung aus Corten-Stahl nimmt Bezug auf das regionaltypische Reet. „Die Art und Weise, wie er patiniert und dadurch mit der Zeit schöner wird, ist ähnlich. Die senkrechten Linien der Reetbündel finden sich in den Fugen und den Wasserspuren auf dem Corten-Stahl wieder“, erklärt Petersen die konzeptionelle Verbindung.
Im Inneren setzen geglätteter Sichtestrich mit leichter Wolkenoptik und Möbel aus dunkler Eiche die Referenz an historische Materialien fort. Sie erinnern an verdichteten Stampflehmboden und an durch Ammoniakbegasung gedunkeltes Eichenholz in traditionellen Bauernhäusern.
Kostenbewusstes Bauen
Trotz des architektonischen Anspruchs ist das Jahr100Haus ein Beispiel für wirtschaftliches Bauen. Mit Bruttokosten von 2.215 Euro pro Quadratmeter zeigt es, dass qualitätsvolle Architektur nicht zwangsläufig teuer sein muss – ein wichtiger Aspekt angesichts steigender Baukosten und der Notwendigkeit bezahlbaren Wohnraums.
Architektonische Gratwanderung
Das Jahr100Haus verkörpert exemplarisch die Herausforderung, vor der Architektinnen und Architekten im ländlichen Raum stehen: Sie müssen eine Gratwanderung zwischen regionaler Tradition und zeitgemäßer Interpretation meistern. „Der größte Reiz bei diesem Projekt war es, auszuloten, wie man in Reflexion der historischen Baukultur eine zeitgenössische Architektur entwickelt, ohne anbiedernd oder vordergründig spektakulär zu werden“, resümiert Petersen.
Brückenschlag zwischen Epochen
Mit seiner Kombination aus historischen Gebäuden, dem innovativen Jahr100Haus und der Sonderausstellung „Wohltemperiert“ gelingt dem Freilichtmuseum Molfsee ein bemerkenswerter Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft der Architektur. Es zeigt eindrucksvoll, dass traditionelles Bauwissen nicht antiquiert, sondern hochaktuell ist und wesentliche Impulse für eine nachhaltige Baukultur liefern kann.
Die über 60 historischen Gebäude aus dem 16. bis 20. Jahrhundert, die in regionalen Baugruppen arrangiert sind, dienen dabei nicht nur als museale Objekte, sondern als lebendiges Archiv praktischen Wissens. Sie dokumentieren, wie Baumeisterinnen und Handwerker über Jahrhunderte kluge Lösungen für spezifische klimatische und regionale Anforderungen entwickelt haben.
Inspiration für die Gegenwart
In Zeiten, in denen die Baubranche nach Lösungen für klimaneutrale Gebäude sucht, bietet die Ausstellung wertvolle Denkanstöße jenseits hochkomplexer technischer Systeme. Sie zeigt auf, dass geschickte Formgebung, durchdachte Raumkonzepte und die kluge Nutzung lokaler Ressourcen oft einfachere und nachhaltigere Lösungen bieten können als aufwendige technische Installationen.
Das Freilichtmuseum Molfsee etabliert sich damit nicht nur als Ort der Bewahrung historischer Bausubstanz, sondern als Impulsgeberin für zukunftsweisendes Bauen. Mit jährlich mehr als 120.000 Besucherinnen und Besuchern hat es das Potenzial, ein breites Publikum für die Themen Energieeffizienz und traditionelle Bauweisen zu sensibilisieren und den Diskurs über klimagerechte Architektur mit wertvollen historischen Perspektiven zu bereichern.

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