Baukunst - La Biennale 2025 "Die Natur als Lehrmeisterin"
Elephant Chapel © Marco Zorzanello - Courtesy of La Biennale di Venezia

La Biennale 2025 „Die Natur als Lehrmeisterin“

24.05.2025
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Ignatz Wrobel

Die poetische Dimension der Biennale

Die Kapelle der sanften Riesen

In den Corderie dell’Arsenale steht ein Bauwerk, das die Jury der Biennale zu einer besonderen Erwähnung bewegte: Boonserm Premthadas „Elephant Chapel“. Was auf den ersten Blick wie eine traditionelle Backsteinarchitektur aussieht, offenbart bei näherem Hinsehen eine revolutionäre Materialgeschichte. Die Ziegel bestehen aus Elefantendung – ein Baustoff, der Jahrtausende alte Partnerschaften zwischen Mensch und Tier in neues Licht rückt.

„In einer thailändischen Provinz, wo Menschen und Elefanten seit Jahrtausenden Seite an Seite leben, konstruiert Premthada ein Freiluftheiligtum namens Elephant World“, erklärt die Jury ihre Entscheidung. Das Projekt ehrt nicht nur diese Partnerschaft, sondern verwandelt organischen Abfall in dauerhaften Baustoff. Was zunächst provokant klingt, entpuppt sich als poetische Logik: Elefantendung enthält bereits zerkleinerte Pflanzenfasern, die dem Material natürliche Zugfestigkeit verleihen.

Die Bögen der Kapelle schwingen sich elegant über den Raum, getragen von Materialien, die zuvor durch den Verdauungstrakt der größten Landtiere wanderten. Es ist Architektur als Stoffkreislauf, als sichtbare Verbindung zwischen verschiedenen Lebensformen. „Ihre Kunst steht im Einklang mit der natürlichen Welt“, würdigt die Jury Premthadas Ansatz.

Stromatoliten als Architekturbuch

Während Premthada mit organischen Abfällen experimentiert, blicken andere Forscherinnen und Forscher noch tiefer in die Erdgeschichte. Das Projekt „Geological Microbial Formations“ nutzt Stromatoliten als Inspiration – jene geschichteten Kalksteinformationen, die zu den ältesten Zeugnissen des Lebens auf der Erde zählen.

Die Parallelität ist faszinierend: Wie vor Milliarden Jahren Algen Schicht um Schicht Kalk ablagerten, so stapeln heute Roboter Sand, Bakterienkulturen und Minerallösungen zu neuen Architekturen. „Der Vergleich zu Stromatoliten geht über oberflächliche Ähnlichkeiten hinaus“, erklären die Entwicklerinnen. „Wir nutzen ihr langsames, geschichtetes Wachstum als Paradigma für architektonische Zeitlichkeit.“

Was entsteht, sind Gebäude, die nicht konstruiert, sondern kultiviert werden. Sie wachsen wie Organismen, entwickeln ihre Form durch biologische und mineralische Interaktionen. Die traditionelle Trennung zwischen Natur und Architektur löst sich auf – zurück bleibt eine neue Kategorie des Bauens, die weder rein natürlich noch vollständig artificial ist.

DNA-kodierte Träume

Noch weiter in die molekulare Welt führt das Projekt „Necto“ – eine riesige Überdachung, geknüpft aus „DNA-kodiertem Garn“. Was nach Science Fiction klingt, ist ausgeklügelte Biotechnologie: Genetische Informationen werden in synthetische Fasern eingeschrieben, die sich je nach Umweltbedingungen unterschiedlich verhalten.

Das Ergebnis ist eine Architektur, die atmet. Die Überdachung reagiert auf Feuchtigkeit, Temperatur und Licht, verändert ihre Durchlässigkeit und ihr Volumen. Besucherinnen und Besucher müssen sich unter der schwebenden Struktur hindurchbewegen, sich ihr anpassen – eine physische Erfahrung von Anpassung und Flexibilität.

„Necto“ wurde in wenigen Koffern nach Venedig transportiert – ein Beweis für die Effizienz bio-inspirierter Konstruktionen. Was zusammengefaltet kaum Platz braucht, entfaltet sich zu raumgreifenden Strukturen. Die Natur liefert das Vorbild: Vom gefalteten Farnblatt bis zum sich entfaltenden Schmetterling zeigt sie, wie maximale Wirkung mit minimalem Materialaufwand erreicht wird.

Algen als Architekten der Zukunft

Im „Blue Garden“ experimentieren Forscherinnen mit dreieckigen Fliesen, die speziell für das Wachstum von Unterwasseralgen entwickelt wurden. Die runzlige Oberfläche bietet optimale Haftbedingungen für Mikroorganismen, die Kohlendioxid binden und Sauerstoff produzieren. Architektur wird zur aktiven Teilnehmerin im globalen Kohlenstoffkreislauf.

Die Ästhetik folgt der Funktion: Die Fliesen sehen aus wie vergrößerte Korallen oder versteinerte Schwämme. Ihre organischen Formen sind das Ergebnis algorithmischer Optimierung – Computer simulierten das Wachstum der Algen und entwickelten die ideale Oberfläche. Künstliche Intelligenz imitiert natürliche Intelligenz, um Lebensraum für Mikroorganismen zu schaffen.

„Wir verwandeln Gebäude in lebende Ökosysteme“, erklärt das Forschungsteam. Die Vision ist ambitioniert: Fassaden, die wie Korallenriffe funktionieren, Dächer, die wie Wälder atmen, Fundamente, die wie Wurzelsysteme Nährstoffe austauschen.

Das Manifesto der Kreislaufwirtschaft

Hinter allen bio-inspirierten Projekten der Biennale steht eine gemeinsame Vision: das Circular Economy Manifesto, das Carlo Ratti am 20. September 2024 mit Unterstützung von Arup und der Ellen MacArthur Foundation vorstellte. „Wir verpflichten uns, Pavillons und Räume zu schaffen, die nicht nur temporäre Showcases sind, sondern Beispiele für mutiges zirkuläres Denken darstellen und nachhaltige Vermächtnisse schaffen.“

Die meisten Ausstellungspaneele der Biennale bestehen aus recyceltem Holz und werden nach Ende der Ausstellung zu neuen Materialien geschreddert. Ein konsequenter Kreislauf, der Abfall vermeidet und Ressourcen schont. Die Biennale wird zur Kohlenstoffneutralität nach ISO 14068 verpflichtet – ein Novum in der Kulturwelt.

Seegras statt Styropor

Aus Griechenland kommt eine besonders elegante Lösung für das Dämmstoffproblem: Das Kollektiv Vessel hat Isolierpaneele aus Seegras entwickelt. Das Material, das an Mittelmeerstränden oft als lästiger Abfall betrachtet wird, erweist sich als hervorragender Wärmedämmer mit extrem niedrigem CO2-Fußabdruck.

Die Panele sehen aus wie gepresstes Heu, riechen nach Meer und isolieren besser als viele synthetische Materialien. „Wir nutzen, was die Natur uns vor die Füße spült“, erklärt das Team. Die Ästhetik ist bewusst rau, ungeschliffen – sie zeigt ihre Herkunft und macht die natürlichen Prozesse sichtbar.

Material Cultures aus Manchester

Während Vessel mit Meeresabfall experimentiert, entwickelt Material Cultures aus Manchester bio-basierte Wohnexperimente. Das britische Forschungskollektiv arbeitet mit Pilzmyzelien, Bakterienzellulosen und anderen lebenden Materialien. Ihre Versuchsbauten wachsen buchstäblich heran, geformt von den Bedürfnissen der Organismen.

„Unsere Gebäude sind lebende Systeme“, erklärt Gründerin Sian Russell. „Sie reagieren auf ihre Umgebung, verändern sich mit der Zeit, sterben und werden zu Kompost.“ Eine radikale Vision, die Architektur als temporäres Phänomen begreift – nicht als Monument für die Ewigkeit, sondern als Teil natürlicher Kreisläufe.

Die Poesie der Anpassung

Was alle diese Projekte verbindet, ist eine neue Ästhetik der Anpassung. Statt starrer Geometrien und unveränderlicher Materialien entstehen flexible, responsive, lebendige Architekturen. Sie sind schön, weil sie funktionieren – und sie funktionieren, weil sie von der Natur lernen.

Diese Bio-Architekturen erzählen andere Geschichten als die heroischen Großbauten der Moderne. Sie sprechen von Symbiose statt Eroberung, von Kreisläufen statt linearen Prozessen, von Kollaboration statt Dominierung. Ihre Schönheit liegt nicht in der perfekten Form, sondern in der eleganten Anpassung an sich verändernde Bedingungen.

Zwischen Pragmatismus und Poesie

Die Biennale 2025 zeigt: Die Zukunft der Architektur liegt nicht in der Überwindung der Natur, sondern in der Partnerschaft mit ihr. Ob Elefantendung-Ziegel oder DNA-kodierte Fasern, ob Algen-Fassaden oder Pilz-Konstruktionen – überall entstehen neue Allianzen zwischen menschlicher Gestaltung und natürlichen Prozessen.

Diese Projekte sind zugleich pragmatisch und poetisch. Sie lösen konkrete Probleme – von der CO2-Bindung bis zur Materialknappheit – und schaffen dabei neue Formen der Schönheit. Sie zeigen, dass Nachhaltigkeit und Ästhetik keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig befruchten können.

Die Natur wird zur Lehrmeisterin einer Architektur, die nicht länger gegen die Umwelt kämpft, sondern mit ihr kooperiert. In dieser Partnerschaft liegt vielleicht der Schlüssel zu einer Baukunst, die sowohl die Klimakrise bewältigt als auch die menschliche Sehnsucht nach Schönheit erfüllt.

Die 19. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ läuft noch bis zum 23. November 2025.

Öffnungszeiten:

  • Mai bis 28. September: 11:00 – 19:00 Uhr (Freitag/Samstag im Arsenale bis 20:00 Uhr)
  • 29. September bis 23. November: 10:00 – 18:00 Uhr
  • Geschlossen: Montags (außer 12. Mai, 2. Juni, 21. Juli, 1. September, 20. Oktober, 17. November)

Veranstaltungsorte: Giardini und Arsenale, Venedig

Eintrittspreise:

  • Einzelticket: 25€ (gültig für beide Venues)
  • Ermäßigt: 22€ (Studierende, Senioren 65+, Gruppen ab 10 Personen)
  • Familienticket: Kinder bis 6 Jahre frei

Weitere Informationen: www.labiennale.org/en/architecture/2025