Baukunst - Lübecks Bildungsrevolution: Wie eine Stadt ihre Kaufhaus-Ruine zu Gold macht
Lübeck © Achim Scholty/Pixabay

Lübecks Bildungsrevolution: Wie eine Stadt ihre Kaufhaus-Ruine zu Gold macht

23.08.2025
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Claudia Grimm

Ein Leuchtturmprojekt entsteht

Mitten im UNESCO-Welterbe vollzieht sich eine bemerkenswerte Transformation: Die Hansestadt Lübeck, die das ehemalige Karstadt-Gebäude 2022 erworben hat, reagiert damit sowohl auf den innerstädtischen Wandel als auch auf die Raumnot der Lübecker Altstadtgymnasien. Was einst Konsumtempel war, wird zum Tempel der Bildung – ein Paradigmenwechsel, der weit über Schleswig-Holstein hinausstrahlt.

Der Vorentwurf des Lübecker Architekturbüros ppp architekten + generalplaner steht seit Februar 2025. Das aus den 1990er Jahren stammende Gebäude im Zentrum der Altstadt soll sich vom introvertierten Fremdkörper zum extrovertierten Kommunikationswunder entfalten. Diese poetische Umschreibung trifft den Kern: Ein verschlossenes Warenhaus öffnet sich der Stadtgesellschaft.

Denkmalschutz trifft Bildungsnotstand

Die vier Altstadtgymnasien – Katharineum, Johanneum, Ernestinenschule und Oberschule zum Dom – stecken in einem klassischen Dilemma. Um- und Anbauarbeiten sind hier, aufgrund des Denkmalschutzes, nur schwer zu realisieren. Die historischen Schulgebäude auf der Altstadtinsel können nicht einfach erweitert werden. Die Umstellung auf G9 verschärft die Situation zusätzlich: Aktuell wird mit einer maximalen Belegung von etwa 1.200 Schülerinnen und Schülern inklusive Lehrpersonal gerechnet.

Jan Kempe, Lehrer am Katharineum, bringt die Herausforderung auf den Punkt: Die traditionellen Räume eignen sich kaum für moderne Unterrichtskonzepte. Projektorientiertes Lernen, flexible Raumnutzung, interdisziplinäre Zusammenarbeit – all das scheitert an starren Strukturen aus vergangenen Jahrhunderten.

Partizipation als Planungsprinzip

Bemerkenswert ist der Entstehungsprozess des Bildungshauses. Seit Sommer 2023 hat die Hansestadt Lübeck gemeinsam mit den zukünftigen Nutzer:innen des ÜBERGANGSHAUS in einem Beteiligungsprozess Ideen und Maßnahmen entwickelt. Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, Eltern, Hochschulangehörige und Kulturschaffende entwickelten gemeinsam Visionen.

Die sogenannte “Phase Null” ermöglichte echte Mitbestimmung. Digitale Umfragen fragten: “Wie lernst du am liebsten?” Visionenwerkstätten brachten alle Akteure an einen Tisch. Eine Schülerin formuliert treffend: “Ich finde es toll durch den Beteiligungsprozess ein Mitspracherecht zu haben. Die Visionen von uns Schülerinnen und Schülern vom Lernen von morgen können so umgesetzt werden.”

Architektonische Innovation im historischen Kontext

Kernidee des Umbaus ist dabei – neben dem Umbau des Daches –, ein über alle Geschosse mittig angelegtes Atrium zur Belichtung und Belüftung. Diese zentrale Geste transformiert das hermetische Kaufhaus in einen durchlässigen Bildungsort. Die oberen fünf Geschosse beherbergen künftig Lernräume, abgeschirmt vom städtischen Trubel. Das Erdgeschoss hingegen öffnet sich maximal – mit Café, Bühne und Tribüne entsteht ein lebendiger Treffpunkt.

Architekt Klaus Petersen erklärt die Vision: “Wir wollten einen Ort schaffen, der die Innenstadt nachhaltig belebt und Raum für Begegnungen im Herzen der Altstadt bietet – offen, einladend und frei von Konsumzwängen.” Die zweigeschossige Holzkonstruktion auf dem Dach fügt sich mit rostroter Farbgebung harmonisch ins Altstadtensemble ein – ein sensibler Umgang mit dem UNESCO-Erbe.

Mixed-Use als Zukunftsmodell

Das Bildungshaus vereint unterschiedlichste Nutzerinnen und Nutzer unter einem Dach: Neben den vier Gymnasien ziehen Teile der Musikhochschule, der Universität zu Lübeck und der Technischen Hochschule ein. Der Offene Kanal Lübeck und Start-ups ergänzen das Spektrum. Diese programmatische Vielfalt verspricht Synergien: Wenn Gymnasiasten auf Studierende treffen, Unternehmensgründer mit Musikerinnen diskutieren, entsteht ein kreativer Schmelztiegel.

Senatorin Monika Frank betont: “Das Gebäude wird aber weit mehr sein als ein Schulgebäude. Es wird eine Plattform für Wissen, Kreativität und lebenslanges Lernen, die den Austausch zwischen den Generationen fördert.”

Mobilität neu gedacht

Ein unterschätzter Baustein des Konzepts versteckt sich im Untergeschoss: Circa 400 Fahrradstellplätze sollen in die vorhandene Unterbauung der Schrangen integriert werden. Diese Fahrradgarage dient nicht nur Schülerinnen und Schülern, sondern allen Lübeckerinnen und Lübeckern. Ein klares Signal für die Verkehrswende in der historischen Altstadt.

Das ÜBERGANGSHAUS als Reallabor

Seit Juni 2024 ist das Gebäude bereits als “ÜBERGANGSHAUS” in Betrieb – eine kluge Zwischennutzung, die Erfahrungen für die finale Transformation sammelt. Pop-up-Aktionen, temporäre Ausstellungen und erste Bildungsangebote testen bereits heute, was ab 2028 Alltag werden soll. Sogar Leseecken der Bücherpiraten sind eingezogen – ein Vorgeschmack auf die künftige Lebendigkeit.

Regionale Strahlkraft und Modellcharakter

Das Lübecker Bildungshaus adressiert typische Herausforderungen norddeutscher Mittelstädte: Wie reaktiviert man Handelsimmobilien? Wie schafft man Bildungsräume ohne Flächenverbrauch? Wie verbindet man Denkmalschutz mit zeitgemäßer Nutzung? Die Antworten aus Lübeck könnten Schule machen – in Flensburg, Schwerin oder Greifswald stehen ähnliche Herausforderungen an.

Bausenatorin Joanna Hagen sieht überregionale Relevanz: “Gerade in unserer UNESCO-geschützten Altstadt ist es entscheidend, zukunftsfähige Konzepte für Bestandsbauten zu entwickeln, die sich gut in das historische Gesamtbild einfügen.”

Finanzierung und Zeitplan

Der Umbau beginnt 2026, die Eröffnung ist für 2028 geplant. Über die Gesamtkosten schweigt sich die Stadt noch aus – angesichts der Dimension des Projekts dürften diese jedoch beträchtlich sein. Fördermittel des Bundes aus dem Programm “Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren” unterstützen das Vorhaben.

Ein Blick nach vorn

Die Transformation eines Kaufhauses zu einem Gebäude mit öffentlichem Mehrwert darf als Paradebeispiel für die dringend benötigte Weiterentwicklung unserer Stadtzentren gelten. Lübeck zeigt: Innenstadtentwicklung funktioniert nicht über Nostalgie, sondern über mutige Neuinterpretation. Wo früher Ware über die Ladentheke ging, werden künftig Ideen ausgetauscht.

Bürgermeister Jan Lindenau fasst zusammen: “Mit dem Bildungshaus schaffen wir dringend benötigte Räume für die Altstadtgymnasien und einen lebendigen Treffpunkt, an dem Menschen aller Generationen zusammenkommen, Ideen entwickeln und voneinander lernen.”

Das Bildungshaus wird mehr als eine Notlösung für Raumnot. Es wird zum Symbol für eine Stadt, die ihre Tradition nicht konserviert, sondern transformiert. Die Hansestadt, einst Zentrum des Handels, positioniert sich als Zentrum der Bildung. Ein Kaufhaus wird zum Lehrhaus – passender könnte die Metapher für den Strukturwandel kaum sein.