Baukunst-Maritime Moderne - Wie Bremerhaven seine Hafenidentität neu definiert
Bremerhaven © Harald Smith/Unsplash

Maritime Moderne – Wie Bremerhaven seine Hafenidentität neu definiert

25.05.2025
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Ignatz Wrobel

Zwischen Eis und Innovation – Das neue AWI-Technikum in Bremerhaven setzt architektonische Maßstäbe für Forschungsbauten

Hafenarchitektur mit wissenschaftlichem Anspruch

Die markante Silhouette des AWI-Technikums prägt seit Oktober 2023 die Skyline des Bremerhavener Klimacampus. Der 18,5 Millionen Euro teure Neubau des Alfred-Wegener-Instituts verkörpert mehr als nur ein weiteres Forschungsgebäude – er steht exemplarisch für die architektonische Transformation einer ganzen Region.

Die Kölner Architekten von kister scheithauer gross verstanden es meisterhaft, die spezifischen Anforderungen der Polar- und Meeresforschung in eine überzeugende bauliche Gestalt zu überführen. Der 60 Meter lange und 44 Meter breite Baukörper fügt sich mit seiner langgestreckten, gefalteten Fassade selbstverständlich in die maritime Kulisse zwischen Kanal und Yachthafen ein.

Besonders gelungen ist die Materialwahl: Die dunkelbraunen Ziegelverkleidungen der geschlossenen Fassadenteile nehmen direkten Bezug zur historischen Hafenarchitektur Bremerhavens. Gleichzeitig schaffen großzügige Glasflächen im Erdgeschoss jene Transparenz, die das Institut als „offene Werkstatt“ erlebbar macht. Diese Dualität zwischen Offenheit und Geschlossenheit spiegelt treffend die Arbeitsweise des AWI wider: nach außen kommunikativ, nach innen hochkonzentriert auf extreme Forschungsbedingungen.

Technikum als architektonische Herausforderung

Die funktionalen Anforderungen des Gebäudes stellten die Planenden vor ungewöhnliche Aufgaben. Wo sonst muss ein Forschungsbau gleichzeitig Temperaturen von minus 80 Grad Celsius in Kältekammern und die Simulation von Tiefseedrücken in Testbecken verkraften? Das Rasmus-Willumsen-Haus – benannt nach dem letzten Weggefährten Alfred Wegeners – beherbergt auf kompakter Grundfläche ein 19 Meter hohes Testlabor für Bohrgeräte, spezialisierte Werkstätten und ein hochmodernes Elektroniklabor.

Die architektonische Lösung überzeugt durch ihre schlichte Eleganz: Anstatt die komplexe Haustechnik zu verstecken, macht sie die Fassadengliederung zum eigenständigen Gestaltungselement. Die verschiedenen Funktionsbereiche artikulieren sich als ablesbare Volumen, die zu einer skulpturalen Einheit zusammenwachsen. Professor Johannes Kister formulierte es treffend: „Das AWI hat ein Zeichen gesetzt. Ein bauliches Signal an einem wichtigen Ort mit Strahlkraft.“

Nachhaltigkeit als regionale Verpflichtung

Mit der BNB-Silber-Zertifizierung setzt das Technikum neue Maßstäbe für nachhaltiges Bauen in der Region. Gerade in Bremerhaven, wo sich die Folgen des Klimawandels besonders drastisch zeigen, erhält nachhaltiges Bauen eine zusätzliche Dimension. Das Gebäude demonstriert, wie sich höchste technische Anforderungen mit ökologischer Verantwortung verbinden lassen.

Die Energiekonzeption berücksichtigt die extremen Betriebsbedingungen: Während in den Kältekammern arktische Verhältnisse simuliert werden, nutzt das Gebäude gleichzeitig regenerative Energien für seinen Grundbetrieb. Diese scheinbare Paradoxie lösen die Ingenieure durch ausgeklügelte Wärmerückgewinnungssysteme und hocheffiziente Dämmkonzepte.

Impulsgeber für das Werftquartier

Das AWI-Technikum fungiert als Katalysator für die Transformation des gesamten Werftquartiers. Als eines der ersten realisierten Projekte in diesem nachhaltigen Stadtentwicklungsvorhaben zeigt es exemplarisch, wie sich wissenschaftliche Exzellenz mit städtebaulicher Qualität verbinden lässt. Die Positionierung zwischen Hauptkanal und Handelshafen macht das Gebäude zum sichtbaren Auftakt einer neuen Forschungsmeile.

Dabei gelingt es dem Entwurf, die industrielle Vergangenheit des Standorts zu würdigen, ohne in nostalgische Verklärung zu verfallen. Die klaren Raumkanten und die robuste Materialität nehmen Bezug auf die Werftarchitektur, während die präzise Detaillierung zeitgenössische Ansprüche erfüllt.

Regionale Baukultur neu definiert

Das Projekt zeigt eindrucksvoll, wie sich regionale Baukultur weiterentwickeln kann. Anstatt die typischen Klinkerfassaden norddeutscher Prägung lediglich zu kopieren, interpretieren die Architekten sie zeitgemäß neu. Die gefaltete Fassadengeometrie verleiht dem traditionellen Material eine unerwartete Dynamik.

Besonders bemerkenswert ist die Einbindung lokaler Kompetenz: Die ausführenden Unternehmen stammen größtenteils aus der Region und brachten ihre spezifische Expertise im Umgang mit der rauen Nordseewitterung ein. Diese Verwurzelung in regionalen Handwerkstraditionen bei gleichzeitiger technologischer Innovation kennzeichnet das Projekt als authentisch bremerhavenerisch.

Funktionale Exzellenz als Gestaltungsprinzip

Die 40 Arbeitsplätze des Technikums sind nicht gleichmäßig verteilt, sondern folgen den spezifischen Anforderungen der verschiedenen Forschungsbereiche. Diese funktionale Logik prägt auch die architektonische Erscheinung: Wo hohe Räume für Testtürme benötigt werden, artikuliert sich dies in der Fassade. Wo Labore absolute Ruhe erfordern, werden sie ins Gebäudeinnere gelegt.

Diese Ehrlichkeit im Umgang mit der Funktion verleiht dem Bau seine überzeugende Ausstrahlung. Es entsteht keine beliebige Hülle, sondern ein Gebäude, das seine Bestimmung selbstbewusst zur Schau trägt. Die Expeditionsvorbereitungen für Arktis und Antarktis werden damit selbst zu einem architektonischen Ereignis.

Leuchtturm der maritimen Forschung

Mit dem Technikum festigt Bremerhaven seine Position als deutsches Zentrum der Meeresforschung. Die räumliche Nähe zu etablierten Instituten wie dem Thünen-Institut verstärkt die Synergieeffekte. Gleichzeitig symbolisiert der Neubau den Aufbruch in eine neue Phase der Polarforschung, in der autonome Systeme und digitale Technologien eine zentrale Rolle spielen.

Die architektonische Qualität des Gebäudes unterstreicht dabei den wissenschaftlichen Anspruch: Nur wer seine Instrumente unter extremsten Bedingungen testet, kann in Arktis und Antarktis bestehen. Das Technikum macht diese Notwendigkeit räumlich erfahrbar und schafft damit eine neue Typologie des Forschungsbaus.

Ausblick auf die Hafenstadt von morgen

Das AWI-Technikum markiert einen Wendepunkt in der Bremerhavener Stadtentwicklung. Es zeigt, wie sich eine traditionelle Hafenstadt durch wissenschaftliche Exzellenz neu erfinden kann, ohne ihre maritime Identität zu verlieren. Die gelungene Balance zwischen regionaler Verankerung und globaler Ausstrahlung könnte wegweisend für weitere Projekte werden.

Die vierjährige Bauzeit bis zur Einweihung im Oktober 2023 dokumentiert dabei auch die Effizienz regionaler Planungs- und Bauabläufe. Trotz der komplexen technischen Anforderungen gelang es, Termine und Budget einzuhalten – ein Qualitätsmerkmal, das weit über Bremerhaven hinaus Beachtung verdient.