Baukunst - Mehr als schöne Fassaden: Europas Architekturschulen erfinden sich neu
Young Talent 2025 © Mies van der Rohe Awards der EU

Mehr als schöne Fassaden: Europas Architekturschulen erfinden sich neu

22.09.2025
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Ignatz Wrobel

Wie die EUMIES Awards Young Talent 2025 neue Wege in der Architekturausbildung aufzeigen

Zwischen Akademie und Praxis: Ein neues Bildungsverständnis

Die im Palazzo Mora in Venedig präsentierten Abschlussarbeiten der EUMIES Awards Young Talent 2025 markieren einen Wendepunkt in der europäischen Architekturausbildung. Mit drei prämierten Projekten – Brave New Axis aus Athen, Forest & Phoenix aus Berlin und Hotel Interim aus Weimar – demonstriert die aktuelle Ausgabe des renommierten Nachwuchspreises, wie zeitgenössische Wissensvermittlung in der Architektur funktioniert: nicht als isolierte akademische Übung, sondern als dialogischer Prozess zwischen Studierenden, Lehrenden und gesellschaftlichen Herausforderungen.

Was die 12 nominierten Arbeiten aus 11 Hochschulen und 7 Ländern verbindet, ist ihre konsequente Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen unserer Zeit. Die Jury betont, dass diese Generation von Architektinnen und Architekten eine besondere Sensibilität für die Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften entwickelt hat. Diese Beobachtung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Transformation der Architekturausbildung: Weg von der reinen Formlehre, hin zu einem integrativen Bildungsansatz, der soziale, ökologische und kulturelle Dimensionen gleichberechtigt behandelt.

Masterprogramme als Experimentierfelder

Die Struktur der EUMIES Awards spiegelt die Bedeutung der Masterprogramme als zentrale Innovationslabore wider. Zwischen Januar 2023 und Dezember 2024 entstanden die eingereichten Arbeiten – ein Zeitraum, der von multiplen Krisen geprägt war. Gerade diese Herausforderungen haben die Studierenden zu radikalen Ansätzen inspiriert. Das Projekt Brave New Axis etwa dekonstruiert Athens historisches Stadtgefüge von 1833 und schafft neue räumliche Verbindungen, die Inklusivität und Mobilität fördern. Solche Ansätze entstehen nicht im Vakuum, sondern durch interdisziplinäre Lehrmethoden, die Geschichte, Technologie und Sozialwissenschaften verschränken.

Die teilnehmenden Hochschulen – von der National Technical University of Athens über die TU Berlin bis zur Bauhaus-Universität Weimar – repräsentieren unterschiedliche pädagogische Traditionen. Dennoch zeigt sich in den Arbeiten eine gemeinsame Sprache: Die Studierenden verstehen Architektur als gesellschaftliche Praxis. Diese Entwicklung ist das Ergebnis reformierter Curricula, die verstärkt auf Projektarbeit, internationale Kooperationen und die Integration verschiedener Disziplinen setzen.

Vom Diplom zur professionellen Praxis

Ein zentrales Element der EUMIES Awards ist die Brückenbildung zwischen akademischer Ausbildung und beruflicher Realität. Die Preisträgerinnen und Preisträger erhalten nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern werden in ein europäisches Netzwerk integriert, das kontinuierliche Weiterbildung ermöglicht. Jeder Gewinner entwickelt einen individuellen Aktionsplan für das folgende Jahr – eine innovative Form der Nachwuchsförderung, die über traditionelle Stipendienprogramme hinausgeht.

Diese strukturierte Übergangsphase adressiert eine kritische Schwachstelle vieler Ausbildungssysteme: den abrupten Wechsel von der geschützten akademischen Umgebung in die Berufspraxis. Durch Mentoring-Programme, Studioaufenthalte und Forschungsreisen durch Europa schaffen die Awards einen geschützten Raum für experimentelles Arbeiten und professionelle Entwicklung. Die Teilnehmenden dokumentieren ihre Erfahrungen in einem Abschlussbericht – ein reflexives Element, das Lernen als kontinuierlichen Prozess begreift.

Digitale Lernplattformen und physische Präsenz

Die Ausstellung “Intelligens. Talent” im Rahmen der Architekturbiennale Venedig demonstriert die Bedeutung hybrider Bildungsformate. Während die physische Präsentation mit Modellen, Fotografien und Videos die sinnliche Dimension der Architektur vermittelt, ermöglicht die digitale Dokumentation im EUmies Awards Archive eine dauerhafte Zugänglichkeit. Diese Dualität spiegelt moderne Lehransätze wider: Digitale Tools erweitern die Möglichkeiten der Wissensvermittlung, ersetzen aber nicht die direkte Auseinandersetzung mit Material und Raum.

Die Live-Übertragung der Preisverleihung am 19. Juni 2025 aus dem Palazzo Michiel erreichte ein internationales Publikum – ein Beispiel dafür, wie traditionelle akademische Rituale durch digitale Formate demokratisiert werden. Gleichzeitig bleibt die physische Begegnung zentral: Die Debatten zwischen Gewinnern, Jurymitgliedern und institutionellen Vertretern schaffen einen Diskursraum, der für die Entwicklung kritischen Denkens unerlässlich ist.

Interdisziplinarität als pädagogisches Prinzip

Die prämierten Arbeiten zeigen exemplarisch, wie interdisziplinäre Ansätze in der Architekturausbildung konkret umgesetzt werden. Forest & Phoenix aus Berlin verbindet Architektur mit Ökologie und Klimaresilienz, während Hotel Interim aus Weimar temporäre Nutzungskonzepte mit sozialen Fragestellungen verknüpft. Diese Projekte entstehen in Studienprogrammen, die bewusst Grenzen überschreiten: Gastdozenten aus anderen Fachbereichen, gemeinsame Seminare mit Soziologen und Umweltwissenschaftlerinnen, Kooperationen mit lokalen Gemeinden.

Die European Association for Architectural Education (EAAE) und der Architects’ Council of Europe (ACE-CAE) als Partner der Awards fördern diese Entwicklung systematisch. Ihre Beteiligung garantiert, dass innovative Lehransätze nicht isoliert bleiben, sondern in einem europäischen Kontext diskutiert und weiterentwickelt werden. Die Zahlen sprechen für sich: Aus anfänglich lokalen Initiativen ist ein Netzwerk entstanden, das Schulen aus allen Creative Europe-Ländern umfasst.

Kritische Perspektiven und zukünftige Herausforderungen

Bei aller Euphorie über neue Bildungsansätze darf die kritische Reflexion nicht fehlen. Die Konzentration auf Masterprogramme wirft Fragen nach der Zugänglichkeit auf: Nicht alle Studierenden können sich die oft kostspieligen weiterführenden Studien leisten. Die geografische Verteilung der Finalisten zeigt zudem ein Ungleichgewicht zwischen West- und Osteuropa, das strukturelle Probleme in der Bildungsfinanzierung offenbart.

Die Erweiterung durch den Young Talent Open Award, der Schulen aus Südostasien, Australien und Neuseeland einbezieht, deutet auf eine notwendige Globalisierung der Architekturausbildung hin. Allerdings bleibt die Frage, wie kulturell spezifische Ansätze bewahrt werden können, ohne in einen homogenisierenden Internationalismus zu verfallen. Die Herausforderung für Bildungsinstitutionen besteht darin, lokale Identitäten zu stärken und gleichzeitig globale Diskurse zu ermöglichen.

Nachhaltigkeit als Bildungsauftrag

Ein durchgängiges Motiv der ausgezeichneten Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit – nicht als zusätzliches Modul, sondern als integraler Bestandteil architektonischen Denkens. Die Studierenden haben gelernt, Lebenszyklusanalysen durchzuführen, mit Bestandsbauten zu arbeiten und zirkuläre Wirtschaftsmodelle zu entwickeln. Diese Kompetenzen sind das Ergebnis reformierter Lehrpläne, die Nachhaltigkeit als Querschnittsthema etablieren.

Die Transformation zeigt sich besonders in der Herangehensweise an Bestandsarchitektur. Statt Abriss und Neubau propagieren die jungen Architektinnen und Architekten adaptive Wiederverwendung und kreative Umnutzung. Diese Haltung wurde durch Lehrende vermittelt, die selbst einen Paradigmenwechsel vollzogen haben: von der Tabula-rasa-Mentalität zur sensiblen Transformation des Bestehenden.

Leserinformation: Die Ausstellung “Intelligens. Talent – EUmies Awards Young Talent 2025” ist noch bis zum 23. November 2025 im Palazzo Mora in Venedig zu sehen. Sie präsentiert als offizielles Collateral Event der 19. Internationalen Architekturausstellung – La Biennale di Venezia die Arbeiten aller 12 Finalisten sowie die drei Gewinnerprojekte. Die EUMIES Awards werden alle zwei Jahre von der Fundació Mies van der Rohe mit Unterstützung des Creative Europe Programms der Europäischen Union vergeben. Die aktuelle Ausgabe umfasste Masterarbeiten aus den Jahren 2023 und 2024. Weitere Informationen und das vollständige Archiv der prämierten Arbeiten sind unter eumiesawards.com zugänglich.