Baukunst - Milliardengrab Stuttgart 21: Die neue Chefin wusste genau, wann sie reden muss
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Milliardengrab Stuttgart 21: Die neue Chefin wusste genau, wann sie reden muss

14.12.2025
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Ignatz Wrobel

Pallas Befreiungsschlag: Wie die neue Bahnchefin mit der Altlast Stuttgart 21 aufräumt

Fünfzehn Jahre Bauzeit, acht Jahre Verzögerung, eine Kostenexplosion von 4,5 auf über 11 Milliarden Euro: Stuttgart 21 hat sich vom Leuchtturmprojekt deutscher Ingenieurskunst zur Dauerbaustelle entwickelt, die das Vertrauen in öffentliche Großprojekte erschüttert. Als die Deutsche Bahn am 19. November 2025 mitteilte, dass auch der für Dezember 2026 geplante Eröffnungstermin nicht zu halten sei, verzichtete sie gleich ganz auf einen neuen Termin. Terminrisiken in bisher nicht vorhersehbarer Dimension wurde als Begründung genannt. Die Kapitulation vor der eigenen Komplexität kam dabei zu einem bemerkenswert günstigen Zeitpunkt.

Schlechte Nachrichten zum richtigen Zeitpunkt

Die neue Bahnchefin Evelyn Palla hatte erst im Oktober 2025 das Ruder von ihrem Vorgänger Richard Lutz übernommen, der wegen schlechter Pünktlichkeitswerte in der Kritik gestanden hatte. Keine sechs Wochen später verkündete sie die bittere Wahrheit über Stuttgart 21. Wer Management studiert hat, kennt dieses Muster: Schlechte Nachrichten verkündet man am besten unmittelbar nach dem Amtsantritt. Was schiefgelaufen ist, lässt sich dem Vorgänger zuschreiben. Die neue Führung kann sich als Aufklärerin positionieren, die endlich reinen Tisch macht.

Es ist ein klassischer Schachzug aus dem Werkzeugkasten erfahrener Managerinnen und Manager. Die Erwartungen werden radikal nach unten korrigiert, um später positive Überraschungen liefern zu können. Palla sprach davon, den Konzern vom Kopf auf die Beine stellen zu wollen. Dass sie dabei gleich mehrere Führungswechsel im Management durchsetzte und den Posten des Infrastrukturvorstandes komplett strich, passt ins Bild einer Neuausrichtung, die mit der Vergangenheit bricht. Ob die Terminprobleme tatsächlich in bisher nicht vorhersehbarer Dimension neu aufgetreten sind oder schlicht verschwiegen wurden, wird sich zeigen.

Architektonische Ambition trifft technisches Scheitern

Was architektonisch als Meisterleistung begann, erstickt im technischen Detail. Der Entwurf von Christoph Ingenhoven, 1997 unter 126 Wettbewerbsbeiträgen einstimmig ausgewählt, versprach eine neue Ära des Bahnhofsdesigns. Die 28 Kelchstützen aus weißem Sichtbeton, jede einzelne 1.000 Tonnen schwer und mit einem Durchmesser von 32 Metern, sollten Tageslicht durch die sogenannten Lichtaugen in die unterirdische Bahnsteighalle bringen. Eine Konstruktion, die in dieser Form noch nie gebaut wurde, entwickelt in Zusammenarbeit mit Frei Otto anhand von Seifenhautmodellen.

Die Jury lobte seinerzeit, der Entwurf schreibe sich als großes städtebauliches Zeichen in den Stadtgrundriss ein, ohne jegliche Monumentalität und ohne dem historischen Bonatzbau Konkurrenz zu machen. Ingenhoven sprach von poetisch lichtdurchfluteten Räumen und gotischen Kathedralen, die weder Heizung noch Kühlung benötigen würden. Während der Rohbau der Bahnsteighalle weitgehend fertiggestellt ist und alle 28 Kelchstützen betoniert wurden, scheitert das Projekt nun an seiner digitalen Infrastruktur.

Der Digitale Knoten als Achillesferse

Der Digitale Knoten Stuttgart (DKS) sollte den Bahnhof zum ersten vollständig digitalisierten Verkehrsknoten Deutschlands machen. Klassische Lichtsignale werden nicht verbaut, stattdessen setzt man ausschließlich auf das europäische Zugsicherungssystem ETCS. Ein Pilotprojekt mit Ausnahmecharakter, das die Leit und Sicherungstechnik im gesamten Großraum Stuttgart digitalisieren soll. Rund 3.500 Feldelemente wie Weichen, Signale und Balisen müssen zertifiziert werden.

Die Probleme mit dem japanischen Konzern Hitachi, einem zentralen Projektpartner für die digitale Technik, reichen weit zurück. Nach der Übernahme des ursprünglich beauftragten Unternehmens Thales/GTS gestaltete sich die Fusion schwierig. Bereits die Inbetriebnahme eines digitalen Stellwerks Ende 2023 und einer ETCS ausgerüsteten Teilstrecke Anfang 2024 waren gescheitert. Auch in Köln kommt es nach dem Einbau digitaler Stellwerkstechnik von Hitachi immer wieder zu Schwierigkeiten mit Zügen von Siemens.

Regionale Frustration und verlorenes Vertrauen

Verkehrsminister Winfried Hermann bezeichnete die erneute Verschiebung als fatale Nachricht. Die Fahrgäste ächzten seit Jahren unter den Folgen der Großbaustelle, ein Ende des angeblich bestgeplanten Bauprojekts sei nicht absehbar. Das letzte bisschen Vertrauen in die Bahn werde mit dieser Ankündigung verspielt. Besonders brisant: Noch einen Monat zuvor hatte die Bahn den Eröffnungstermin auf Rückfragen hin bestätigt. Wir fühlen uns getäuscht, so der Grüne Politiker. Hermann fordert nun einen Sonderlenkungskreis und echte Transparenz statt neuer Termine ohne Substanz.

Die Frage, ob die neuen Terminrisiken tatsächlich erst nach Pallas Amtsantritt erkennbar wurden oder ob das alte Management die Probleme bewusst verschleiert hatte, bleibt offen. Analysen der DB Projekt Stuttgart Ulm GmbH sowie des Beratungsunternehmens PwC hatten laut Berichten bereits im Sommer erhebliche Risiken für den geplanten Eröffnungstermin aufgezeigt. Detlef Neuß vom Fahrgastverband Pro Bahn nannte die Entwicklung eine Riesenblamage.

Die städtebauliche Dimension

Über die technischen Probleme hinaus berührt Stuttgart 21 fundamentale Fragen der Stadtentwicklung. Die freiwerdenden Gleisflächen von 109 Hektar, für 459 Millionen Euro bereits 2001 von der Stadt erworben, sollten ein neues Stadtquartier ermöglichen. Ingenhoven träumte von der Vision einer Stadt im Garten mit zurückgebauten Straßen und Vorfahrt für Fußgängerinnen und Fußgänger sowie Radfahrende. Stattdessen prägen seit 2010 Baustellen die Wege, Lärm den Alltag und Zäune das Stadtbild.

Ein Bürgerbegehren gegen die Bebauung der Gleisflächen scheiterte im November 2025. Die Erschließung des neuen Rosenstein Quartiers wird nach Angaben der Stadt im Milliardenbereich kosten. Kritikerinnen und Kritiker des Projekts verweisen zudem auf grundlegende Konstruktionsmängel: Die Gleisneigung übersteige auf 400 Metern Länge das erlaubte Maß, die Halbierung der Gleisanzahl von 16 auf 8 reduziere die Fahrgastkapazität erheblich.

Lehren für die Baukultur

Stuttgart 21 steht exemplarisch für die Schwierigkeiten deutscher Großprojekte. Die Geschichte des Bahnhofs liest sich wie ein Lehrbuch für Projektmanagement Versagen, kommentierte die Fachpresse. Während andere Länder ihre Infrastruktur konsequent modernisieren, verheddern sich hiesige Vorhaben in bürokratischen Zulassungsverfahren und technischen Problemen. Dass ausgerechnet die Digitalisierung zum Stolperstein wird, offenbart die Misere deutscher Infrastrukturpolitik.

Der architektonisch ambitionierte Entwurf von Ingenhoven verdient Anerkennung, doch Architektur allein schafft keine funktionierenden Verkehrsknoten. Die 28 Kelchstützen mögen architektonische Meisterwerke sein. Ob sie jemals Züge im digitalen Takt empfangen werden, bleibt ungewiss. Für die neue Bahnchefin Palla könnte sich der Zeitpunkt der Wahrheit dennoch als klug erweisen: Gelingt eine Eröffnung in ihrer Amtszeit, wird sie als diejenige gelten, die das Chaos beendet hat.