
Das Cavazzen in Lindau: Wenn Barockpracht auf Gegenwart trifft
Ein spätbarockes Juwel erwacht zu neuem Leben
Nach mehr als zehn Jahren Planung und aufwendiger Sanierung öffnet das Cavazzen in Lindau wieder seine Pforten. Was die Lindauerinnen und Lindauer liebevoll als „schönstes Haus am Bodensee” bezeichnen, ist weit mehr als nur ein saniertes Baudenkmal geworden. Mit einem Investitionsvolumen von über 33 Millionen Euro hat die Stadt ein Jahrhundertprojekt gestemmt, das exemplarisch zeigt, wie historische Bausubstanz behutsam in die Gegenwart überführt werden kann.
Meisterwerk der Baukunst
Der 1729 errichtete Prachtbau am Marktplatz verdankt seine Entstehung der reichen Kaufmannsfamilie Seutter von Loetzen, die nach einem verheerenden Stadtbrand auf mittelalterlichen Kellergewölben aus dem zwölften Jahrhundert ein neues Domizil errichten ließ. Als Architekt verpflichtete man Jakob Grubenmann aus Appenzell, der gemeinsam mit seinen als Brückenbauer bekannten Brüdern ein architektonisches Meisterwerk schuf.
Besonders beeindruckend ist der Dachstuhl mit seiner für die damalige Zeit revolutionären Konstruktion: Über eine Spannweite von zwölf Metern verzichtete Grubenmann komplett auf Stützen – eine technische Meisterleistung, die das Können der Schweizer Baumeisterfamilie eindrucksvoll unter Beweis stellt. Mit fast elf Metern Höhe erreicht das markante Walmdach nahezu die Höhe des darunterliegenden Gebäudes und prägt bis heute die Silhouette des Lindauer Marktplatzes.
Die prächtige Fassadenmalerei mit ihren klassischen Motiven stammt von einem unbekannten Künstler, vermutlich aus Tirol oder Oberitalien. Diese grenzüberschreitende künstlerische Handschrift spiegelt den internationalen Geist wider, der Lindau als Handelsstadt seit jeher prägte.
Sanierung als Gratwanderung
Die Herausforderung der Sanierung lag in der Quadratur des Kreises: Ein fast 300 Jahre altes Baudenkmal sollte nicht nur in seiner historischen Substanz bewahrt, sondern gleichzeitig für moderne Nutzungsanforderungen ertüchtigt werden. Schwere Schäden an der Gebäudesubstanz, veraltete Technik, feuchte Keller und zugige Dachböden machten eine Generalsanierung unumgänglich.
Die Lösung bestand in einem sensiblen Dialog zwischen Alt und Neu. Teils wurde moderne Technik bewusst sichtbar integriert, teils verschwand sie diskret hinter historischen Wänden. Der Einbau eines Aufzugs unter Beachtung aller denkmalpflegerischen Vorgaben geriet dabei selbst zu einer Art Kunst am Bau. Von Fäulnis befallene Böden wurden akribisch kartografiert, aus dem Gebäude geschnitten und exakt im historischen Stil neu eingesetzt – eine aufwendige, aber notwendige Maßnahme zur Substanzerhaltung.
Besonders erfreulich: Der spektakuläre Dachstuhl ist nun erstmals für Besucherinnen und Besucher zugänglich. Von hier bietet sich nicht nur ein einzigartiger Blick auf die Konstruktion selbst, sondern auch auf Marktplatz, Bodensee und Alpenpanorama – der Ausblick wird selbst zum Exponat.
Neue Nutzungskonzepte für historische Räume
Das Cavazzen soll künftig weit mehr sein als nur ein Museum. Diese Vision durchzieht das gesamte Nutzungskonzept. Neben der neu konzipierten stadtgeschichtlichen Ausstellung entstanden vielfältige Begegnungsräume: Der italienisch anmutende Innenhof lädt zum Verweilen ein, die historischen Kellergewölbe können für Veranstaltungen gemietet werden, und eine kleine Wohnung soll im Wechsel Künstlerinnen und Künstler nach Lindau locken.
Die museale Präsentation selbst verabschiedet sich vom verstaubten Heimatmuseum-Image. Ein moderner Einführungsfilm in der ehemaligen Waffenkammer, interaktive Elemente und partizipative Ansätze schaffen einen „offenen musealen Erlebnisraum”, wie Museumsleiterin Barbara Reil es formuliert. Dabei scheut man auch vor dunklen Kapiteln der Stadtgeschichte nicht zurück: Die Tatsache, dass Lindau 1931 die erste bayerische Kommune mit NSDAP-Oberbürgermeister war, wird ebenso thematisiert wie die kontroverse Geschichte einer Hitlerjungen-Skulptur aus dem Jahr 1937.
Regionale Strahlkraft mit überregionaler Bedeutung
Was in Lindau gelungen ist, besitzt Modellcharakter für vergleichbare Projekte im süddeutschen Raum. Die geschickte Verflechtung von Fördertöpfen – trotz teils widersprüchlicher Förderbedingungen – zeigt, wie ambitionierte Denkmalprojekte auch für kleinere Kommunen realisierbar werden können. Die bayerische Förderkultur für Baudenkmäler hat hier einmal mehr ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt.
Gleichzeitig demonstriert das Projekt, wie regionale Bautraditionen in zeitgemäße Nutzungskonzepte überführt werden können. Der grenzüberschreitende Charakter – ein Schweizer Baumeister, italienisch-tirolische Fassadenkunst, internationale Kaufmannstradition – spiegelt die historische Rolle Lindaus als Drehscheibe zwischen Nord und Süd wider und verleiht dem Projekt eine europäische Dimension.
Kritische Würdigung
Bei aller Begeisterung für das gelungene Projekt bleiben Fragen: 33 Millionen Euro für ein einzelnes Gebäude – ist das in Zeiten knapper Kassen vertretbar? Die Stadt Lindau beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja und verweist auf die Multifunktionalität des Hauses und seine identitätsstiftende Bedeutung. Tatsächlich geht es hier um mehr als Denkmalpflege: Es geht um Baukultur als Standortfaktor, um kulturelle Strahlkraft und nicht zuletzt um die Bewahrung eines einzigartigen architektonischen Erbes.
Kritisch zu hinterfragen bleibt allerdings, ob die angestrebte Öffnung für breite Bevölkerungsschichten tatsächlich gelingt oder ob das Cavazzen trotz aller Bemühungen ein Ort für kulturaffine Eliten bleibt. Hier wird sich in den kommenden Jahren zeigen müssen, ob die neuen Nutzungskonzepte tatsächlich greifen.
Ausblick
Das Cavazzen steht exemplarisch für einen zeitgemäßen Umgang mit historischer Bausubstanz: Bewahrung ohne Musealisierung, Modernisierung ohne Substanzverlust, Öffnung ohne Beliebigkeit. Wenn Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn von einer „enormen kulturellen Strahlkraft weit über die Region hinaus” spricht, mag das zunächst nach Lokalpolitiker-Rhetorik klingen. Doch tatsächlich besitzt das Projekt das Potenzial, neue Maßstäbe für die Revitalisierung historischer Stadtbauten zu setzen.
Die wahre Bewährungsprobe steht dem Cavazzen allerdings noch bevor: Wird es gelingen, das Haus dauerhaft mit Leben zu füllen? Werden die Lindauerinnen und Lindauer ihr „schönstes Haus am Bodensee” tatsächlich als Begegnungsort annehmen? Die baulichen Voraussetzungen sind geschaffen – nun liegt es an der Stadtgesellschaft, dieses Potenzial zu nutzen.

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