
Von der Verkehrsinsel zum Mikrowald: Lübecks grüne Stadtlabore
Wenn Verkehrsinseln zu Biotopen werden
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die überdimensionierte Kreuzung an der Wakenitzmauer einmal Schulkindern als grünes Klassenzimmer dienen könnte? Was nach einer utopischen Träumerei klingt, nimmt in Lübeck konkrete Gestalt an. Die Initiative „Stadtverwaldung“ plant einen Mikrowald auf der Altstadtinsel – und zeigt dabei exemplarisch, wie sich regionale Planungskultur mit globalen Innovationen verbinden lässt.
Das Konzept stammt vom japanischen Pflanzensoziologen Akira Miyawaki, doch seine Umsetzung in der schleswig-holsteinischen Hansestadt folgt ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten. Während in anderen Bundesländern Tiny Forests meist auf bereits grünen Flächen entstehen, wagen die Lübecker den Vorstoß in den versiegelten Stadtraum. „Zwischen 100 und 2000 Quadratmetern sind notwendig“, erklärt Simone Graber von der Initiative – ein Flächenbedarf, der in der denkmalgeschützten Altstadt zur kreativen Herausforderung wird.
Akademische Planungskultur trifft bürgerschaftliche Initiative
Die Technische Hochschule Lübeck hat dem Vorhaben gleich zwei Seminare gewidmet. Studentinnen und Studenten des Masters Stadtplanung und Architektur entwickelten aus 40 Standortvorschlägen sechs konkrete Konzepte. Diese Verzahnung von akademischer Expertise und zivilgesellschaftlichem Engagement spiegelt die schleswig-holsteinische Tradition partizipativer Planungsverfahren wider.
Besonders bemerkenswert ist der Entwurf „Lernwäldchen“ von Jante Sommer und Eva Söller. Die beiden Masterstudentinnen verwandeln eine 283 Quadratmeter große Verkehrsfläche an der Wakenitzmauer in einen dichten Waldbestand. „Unser Lernwäldchen verwandelt einen Raum, der von Verkehr geprägt war, in eine grüne Oase“, beschreibt Sommer das Konzept. Der sternförmige Verkehrsraum wird so umgestaltet, dass der Verkehrsfluss nur minimal beeinträchtigt wird – ein Kompromiss, der typisch für nordeuropäische Planungsansätze ist.
Nicht weniger ambitioniert ist das „Grünportal Lübeck“ am Hauptbahnhof. Hier teilen Emma-Charlotte Dewitz, Paula Kiel, Amelie Schütte und Marejke Wengler den Bahnhofsvorplatz in zwei grüne Bereiche: einen Eichen-Hainbuchen-Wald auf einer Kuppel und einen Traubenkirschen-Erlen-Eschenwald in einer abgesenkten Zone. Die Holzstreben-Umzäunung verhindert die Entstehung von Angsträumen – ein Detail, das die sicherheitsorientierte Planungskultur der Region widerspiegelt.
Die Miyawaki-Methode im nordeuropäischen Kontext
Was macht einen Miyawaki-Wald aus? Die Methode basiert auf extremer Verdichtung: Drei bis sieben Pflanzen pro Quadratmeter, etwa dreißigmal dichter als in konventionellen Aufforstungen. Diese Dichte erzeugt Konkurrenzdruck, der die Bäume in die Höhe treibt. Statt der üblichen 200 Jahre soll bereits nach 25 bis 30 Jahren eine stabile Waldgesellschaft entstehen.
Die Bodenaufbereitung erinnert an archäologische Präzisionsarbeit: Terra Preta, Mykorrhiza-Substrate und Kompost werden bis in einen Meter Tiefe eingearbeitet. In Lübeck stellt sich dabei die Frage nach den Untergrundverhältnissen der Hansestadt. Wo einst Hanseaten ihre Speicher errichteten, lagern heute oft Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg – eine Herausforderung, die bereits bei Projekten in Darmstadt auftrat.
Die Artenzusammensetzung folgt streng regionalen Kriterien. Statt exotischer Schnellwachser kommen ausschließlich heimische Gehölze zum Einsatz: Stieleichen, Rotbuchen, Hainbuchen, Erlen und Eschen. Diese Treue zur lokalen Flora unterscheidet deutsche Projekte deutlich von ihren tropischen Vorbildern.
Regionale Governance zwischen Tradition und Innovation
Die breite Koalition hinter der Initiative spiegelt die schleswig-holsteinische Konsenskultur wider. Kulturproduzentinnen und Künstler arbeiten mit Waldpädagogen zusammen, das Willy-Brandt-Haus kooperiert mit der Technischen Hochschule, Lübeck Travemünde Marketing vernetzt sich mit dem Verein „Schüler helfen Leben“. Diese horizontale Zusammenarbeit entspricht eher skandinavischen als süddeutschen Planungstraditionen.
Bundestagsabgeordneter Tim Klüssendorf (SPD) bringt die politische Dimension auf den Punkt: „Gerade auf der Altstadtinsel oder in anderen dicht besiedelten Gebieten, in denen bisher keine Waldfläche in der Nähe ist, könnte ein Mikrowald viele Vorteile bieten.“ Seine Unterstützung macht deutlich, dass das Projekt über parteipolitische Grenzen hinweg Konsens findet – ein Luxus, den nicht alle deutschen Großstädte genießen.
Zwischen Euphorie und Realismus
Bei aller Begeisterung bleiben kritische Fragen. Können dicht gepflanzte Bäume wirklich die versprochene Stabilität entwickeln? Erste Studien aus den Niederlanden zeigen zwar eine 18-fach höhere Artenvielfalt in Miyawaki-Wäldern, doch Langzeitdaten fehlen. Die hohe Pflanzdichte kann zu etiolierten, instabilen Stämmen führen – ein Risiko, das in der windexponierten Küstenregion besonders relevant ist.
Auch die Kosten sind nicht von der Hand zu weisen. Die aufwendige Bodenaufbereitung mit Terra Preta macht Miyawaki-Wälder deutlich teurer als konventionelle Aufforstungen. In Zeiten knapper kommunaler Haushalte eine nicht unerhebliche Hürde.
Modellcharakter für andere Hansestädte
Trotz aller Unwägbarkeiten könnte Lübeck zum Vorreiter für andere norddeutsche Städte werden. Hamburg experimentiert bereits mit Tiny Forests, Bremen prüft entsprechende Projekte. Die besondere Herausforderung der Hansestädte liegt in ihren kompakten, denkmalgeschützten Kernen. Hier zeigt das Lübecker Projekt Wege auf, wie auch kleinste Flächen aktiviert werden können.
Der interdisziplinäre Ansatz der Initiative könnte Schule machen. Die Verbindung von akademischer Forschung, künstlerischer Intervention und bürgerschaftlichem Engagement schafft eine Planungskultur, die über den norddeutschen Raum hinaus Beachtung verdient.
Die 120 Bürgerinnen und Bürger, die im Februar zur Auftaktveranstaltung ins Willy-Brandt-Haus kamen, demonstrierten ein Interesse, das weit über übliche Beteiligungsverfahren hinausgeht. In einer Zeit, in der Partizipation oft zur Pflichtübung verkommt, zeigt Lübeck, wie echte Teilhabe funktionieren kann.
Ausblick: Von der Hansestadt zum Hansewald?
Der Mikrowald für Lübeck steht exemplarisch für einen Paradigmenwechsel in der Stadtplanung. Während frühere Generationen von Planern Grün und Verkehr als Gegensätze betrachteten, denkt die Initiative „Stadtverwaldung“ beide Funktionen zusammen. Verkehrsinseln werden zu Biotopen, Parkplätze zu Lernwäldern.
Ob aus der Vision Realität wird, entscheidet sich in den kommenden Monaten. Die Initiative steht vor der Aufgabe, Fördermittel zu akquirieren und geeignete Flächen zu sichern. Doch bereits jetzt hat das Projekt gezeigt, wie regionale Besonderheiten und globale Innovationen zu neuen Lösungen verschmelzen können.
Vielleicht wird die Hansestadt Lübeck schon bald um eine weitere Besonderheit reicher sein: den ersten Mikrowald auf einer deutschen Altstadtinsel. Ein grünes Labor für die Zukunft urbaner Landschaften.
Weiterführende Informationen
Kontakt und Anlaufstellen
Initiative Stadtverwaldung Lübeck
- E-Mail: eule@stadtverwaldung.com
- Ansprechpartnerin: Simone Graber
Technische Hochschule Lübeck
- Fachbereich Architektur und Stadtplanung
- Prof. Norbert Reintjes (Stadtförster)
- Mönkhofer Weg 239, 23562 Lübeck
- www.th-luebeck.de
Willy-Brandt-Haus Lübeck
- Königstraße 21, 23552 Lübeck
- Veranstaltungsort für weitere Diskussionsrunden
- www.willy-brandt.de
Fachorganisationen und Vereine
Citizens Forests e.V.
- Pionier der Miyawaki-Methode in Deutschland
- Erster deutscher Tiny Forest in Bönningstedt (2019)
- Beratung und Unterstützung für neue Projekte
- www.citizens-forests.org
Gemeinsam Buddeln e.V.
- Lokaler Lübecker Partner für Baumpflanzaktionen
- Bereits 10.000 Bäume in Lübeck gepflanzt
- www.gemeinsambuddeln.de
Weiterführende Literatur und Studien
Wissenschaftliche Grundlagen:
- Miyawaki, A.: „The Healing Power of Forests“ (Standardwerk zur Methode)
- Sharma, S.: „Forest Maker“ (Praktische Umsetzung der Afforestt-Methode)
- Studie der Universität Wageningen zu Biodiversität in Tiny Forests (2022)
Deutsche Praxisberichte:
- Citizens Forests: „Aufforsten mit der Miyawaki-Methode“ (Handbuch)
- ESKP: „Wald der Vielfalt – der erste Tiny Forest Brandenburgs“
- Projektdokumentation Darmstadt (200 m², 633 Bäume)

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