Baukunst -Nach dem Einsturz - Dresden reißt die Carolabrücke ab und plant einen Neubau
Dresden © Meile Kiefer/Unspalsh

Nach dem Einsturz – Dresden reißt die Carolabrücke ab und plant einen Neubau

20.08.2025
 / 
 / 
Claudia Grimm

Verkehrskollaps oder Verkehrswende? Dresden nutzt Brückeneinsturz für Mobilitätsdebatte

Wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion: Wenn DDR-Erbe zur Zeitbombe wird

Als in den frühen Morgenstunden des 11. September 2024 um 2:58 Uhr ein hundert Meter langes Teilstück der Carolabrücke in die Elbe stürzte, entging Dresden nur knapp einer Katastrophe. Die letzte Straßenbahn hatte die Brücke gerade einmal acht Minuten zuvor passiert. Was folgte, war nicht nur der spektakuläre Abriss eines der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der sächsischen Landeshauptstadt, sondern auch eine schonungslose Abrechnung mit den Baustandards der DDR-Zeit – und eine kontroverse Debatte über die Zukunft städtischer Mobilität im Spannungsfeld zwischen Verkehrsfluss und Naturschutz.

Professor Steffen Marx vom Institut für Massivbau der TU Dresden, der als Gutachter die Einsturzursache untersuchte, kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Die wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion durch Feuchtigkeitseintrag während der Bauphase, verstärkt durch Ermüdung der Spannstähle, hatte bereits während des Baus der 1971 fertiggestellten Brücke begonnen. Ein konstruktives Versagen mit Ansage also, das mit den üblichen Prüfmethoden nicht vorhersehbar war. Über 68 Prozent der Spannglieder in der Fahrbahnplatte von Zug C waren an der Bruchstelle stark geschädigt.

Sächsische Gründlichkeit trifft auf bundesdeutsche Realität

Die Dresdner Stadtverwaltung und ihre Prüfingenieurinnen und Prüfingenieure hatten nach allen Regeln der Kunst gehandelt. Regelmäßige Inspektionen nach DIN 1076, Sonderuntersuchungen, sogar eine Dauerüberwachung mit Schallemissionsmesstechnik – alles war im grünen Bereich, zumindest auf dem Papier. Die Realität jedoch spielte nach eigenen Regeln. Der allmähliche Ausfall von Spanngliedern führte zum schleichenden Verlust der Spannkraft, bis sich Zug C immer mehr auf den Querträger und damit auf die benachbarten Brückenzüge stützte. Als dieser Querträger schließlich abriss, war das Schicksal der Brücke besiegelt.

Die Konsequenzen reichten weit über Dresden hinaus. Bundesweit wurden vergleichbare Spannbetonbrücken aus derselben Epoche unter die Lupe genommen. In Sachsen allein musste die Elbebrücke Bad Schandau für Fahrzeuge über 7,5 Tonnen gesperrt werden, während andere Bauwerke engmaschige Überwachungen oder gar Sofortsperrungen erfuhren. Die sächsische Bausubstanz aus DDR-Zeiten offenbart ihre Achillesferse – ein Problem, das die Freistaatskassen noch auf Jahre belasten wird.

Abriss als Millionengrab und logistische Meisterleistung

Der kontrollierte Abriss der verbliebenen Brückenzüge A und B im Juni 2025 glich einer chirurgischen Operation am offenen Herzen der Stadt. Mit 120-Tonnen-Langarmbaggern, die mit ihren 40-Meter-Armen über die Brückenzüge griffen, wurden die Stahldrähte durchtrennt, bis die Brückenteile auf eigens aufgeschüttete Fallpolster in der Elbe stürzten. Die Kosten für den Abriss bezifferte die Stadt Dresden im Juli 2025 mit “bis zu 18 Millionen Euro” – Geld, das eigentlich in die geplante Sanierung hätte fließen sollen.

Besonders pikant: Die Fernwärmeversorgung eines Viertels der Stadt hing buchstäblich an zwei 500-Millimeter-Rohren in der Brücke. Als diese beim Einsturz durchtrennt wurden, floss heißes Wasser in die Elbe, und 36.000 Haushalte sowie zwei Krankenhäuser saßen vorübergehend auf dem Trockenen – oder besser gesagt: im Kalten. Als temporärer Ersatz musste eine Doppelrohrbahn auf der Augustusbrücke verlegt werden, eine Notlösung, die bis Ende November 2024 Bestand hatte.

Grüne Wiesen versus graue Infrastruktur: Der Kampf um die Spurenanzahl

Die Diskussion um den Neubau offenbart die tiefen Gräben in der Dresdner Stadtgesellschaft. Auf der einen Seite fordert die regionale Wirtschaft, vertreten durch IHK und Handwerkskammer, einen schnellen vierspurigen Wiederaufbau. Mit 30.000 Fahrzeugpassagen pro Tag stelle die Carolabrücke eine “immanent wichtige Verkehrsader” dar, argumentieren die Kammerpräsidenten Andreas Sperl und Jörg Dittrich. Sie fordern einen Baubeginn bereits 2026 statt des geplanten Starts 2028.

Auf der anderen Seite steht der BUND Dresden mit einer radikalen Gegenvision: nur zwei Fahrspuren statt vier. Florian Wendler, Chef der BUND-Regionalgruppe Dresden, sieht im Neubau “eine große Chance für eine zukunftsgerichtete Stadtentwicklung, die Mobilitätswende und den Schutz der Dresdner Elbwiesen”. Die Umweltschützerinnen und Umweltschützer argumentieren mit rückläufigen Kfz-Zahlen und dem Schutz des FFH-Gebiets. Die Brücke zerschneide nicht nur den geschützten naturgeprägten Raum der Elbwiesen, sondern der Neubau erfordere auch negative bauliche Eingriffe.

Sächsischer Pragmatismus siegt über Planfeststellungsverfahren

Der Stadtrat entschied sich im Juni 2025 für den pragmatischen Weg: Ein Ersatzneubau soll wiedererrichtet werden, sodass kein Genehmigungsverfahren notwendig wird. Diese Entscheidung bedeutet zwar weniger Gestaltungsspielraum, aber auch eine erhebliche Zeitersparnis. Statt eines langwierigen Planfeststellungsverfahrens mit ungewissem Ausgang setzt Dresden auf Geschwindigkeit – eine Entscheidung, die angesichts der verkehrlichen Situation nachvollziehbar erscheint.

Die Ausschreibungsunterlagen sollen Anfang September 2025 veröffentlicht werden. Vier Büros werden mit konkreten Entwürfen beauftragt, die Ende Mai 2026 der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Ein Begleitgremium aus Stadträten, Kammern und Interessenverbänden soll den Prozess überwachen – sächsische Bürgerbeteiligung in strukturierter Form.

Regionale Lehren aus einer lokalen Katastrophe

Der Einsturz der Carolabrücke ist mehr als nur ein Dresdner Problem. Er wirft ein Schlaglicht auf die Herausforderungen ostdeutscher Kommunen im Umgang mit ihrer Bausubstanz aus DDR-Zeiten. Die spezifischen Baumethoden und Materialien der 1960er und 1970er Jahre, kombiniert mit jahrzehntelanger Unterfinanzierung der Infrastruktur nach der Wende, schaffen eine toxische Mischung, die noch weitere Überraschungen bereithalten könnte.

Gleichzeitig zeigt die Debatte um den Neubau exemplarisch die Konflikte moderner Stadtplanung: Wie viel Verkehr verträgt eine Stadt? Wie lassen sich Naturschutz und Mobilität vereinbaren? Die Dresdner Elbwiesen, einst Weltkulturerbe-Kandidat, jetzt FFH-Gebiet, sind zum Kampfplatz unterschiedlicher Zukunftsvisionen geworden.

2031: Ein Versprechen mit Fragezeichen

Bis zum Jahr 2031 soll in Dresden der Neubau der Carolabrücke entstehen. Mit dem Bau könnte voraussichtlich im zweiten Quartal 2028 begonnen werden. Sechs Jahre ohne eine der wichtigsten Elbquerungen – für eine Stadt, die sich als dynamische Landeshauptstadt versteht, eine Ewigkeit. Die Albertbrücke ächzt bereits jetzt unter der Zusatzlast, die Augustusbrücke bleibt dem ÖPNV vorbehalten.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Infrastruktur keine Selbstverständlichkeit ist. Die Carolabrücke war mehr als nur eine Verkehrsverbindung – sie war Lebensader für den Dresdner Osten, Fernwärmetrasse, Straßenbahnstrecke und Symbol städtischer Moderne. Ihr Einsturz mahnt: Die gebaute Umwelt ist fragiler, als wir glauben. Und die sächsische Gründlichkeit allein reicht nicht aus, wenn die Bausubstanz von vornherein kompromittiert ist.

Dresden baut neu auf – mit allen Konflikten, die das mit sich bringt. Die neue Carolabrücke wird nicht nur Autos, Straßenbahnen und Fußgängerinnen und Fußgänger über die Elbe tragen müssen, sondern auch die Last der Erwartungen einer ganzen Region. Ob sie dieser Aufgabe gewachsen sein wird, entscheidet sich nicht nur am Reißbrett, sondern auch in den hitzigen Debatten der Dresdner Stadtgesellschaft. Die Brücke der Zukunft muss mehr sein als nur ein Ersatz – sie muss ein Statement sein für die Stadt, die Dresden sein will.