
Das unsichtbare Versprechen
In Köln-Kalk macht Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia gerade Ernst mit einer Technologie, die wie Science-Fiction klingt: Fenster, die heizen. Keine Heizkörper mehr unter den Fenstern, keine störenden Konvektoren in den Räumen – nur transparente Glasscheiben, die mit einer hauchdünnen Metalloxid-Beschichtung Wärme abstrahlen. Ein Quadratmeter Scheibe soll zehn Quadratmeter Wohnraum beheizen, verspricht der Konzern. Die Energieeffizienzklasse springt von H auf A. Das klingt nach der lang ersehnten Disruption im trägen Sanierungsmarkt.
Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Die Technologie ist weder neu noch unumstritten. Bereits in den 1990er Jahren experimentierten Forscherinnen und Forscher mit elektrisch beheizbaren Gläsern. Der Durchbruch blieb aus – zu teuer, zu ineffizient, zu wartungsintensiv. Was hat sich geändert? Die Antwort liegt weniger in der Glastechnologie selbst als in der systemischen Integration: Photovoltaik auf dem Dach, hochgedämmte Fassadenelemente und intelligente Lüftungssysteme transformieren das Heizglas vom energiefressenden Luxus zur kalkulierbaren Komponente eines Gesamtsystems.
Die Physik der Strahlungswärme
Heizglas nutzt ein physikalisches Prinzip, das Architekten seit Jahrhunderten kennen: Strahlungswärme. Während konventionelle Heizkörper primär über Konvektion arbeiten – sie erwärmen Luft, die dann zirkuliert – gibt Heizglas Infrarotstrahlung ab, ähnlich einem Kachelofen oder der Sonne. Diese Strahlung erwärmt direkt Oberflächen und Menschen, nicht die Luft dazwischen. Der theoretische Vorteil: gleichmäßigere Temperaturverteilung, keine Staubaufwirbelung, angenehmeres Raumklima.
Die Praxis zeigt jedoch Grenzen auf. Bei Vonovias Pilotprojekt in Köln werden die dreifach verglasten Fenster elektrisch auf etwa 40 Grad Celsius erwärmt. Der Stromverbrauch? Beträchtlich. Nur durch die hauseigene Photovoltaikanlage und die drastisch reduzierte Heizlast durch die vorgehängte Holzfassade mit 30 Zentimeter Dämmung wird das System wirtschaftlich vertretbar. Ohne diese Rahmenbedingungen wäre Heizglas ein ökologisches und ökonomisches Desaster.
Serielle Sanierung als Innovationstreiber
Die eigentliche Innovation liegt nicht im Heizglas selbst, sondern in der Art der Sanierung. “Energiesprong”, aus den Niederlanden importiert, revolutioniert den Prozess: 3D-Laserscanning erfasst millimetergenau die Bestandsgeometrie, Algorithmen berechnen optimale Fassadenelemente, Roboter fertigen passgenaue Module vor. Die acht mal vier Meter großen Wandelemente kommen komplett mit integrierten Fenstern, Lüftungskanälen und Elektroinstallationen auf die Baustelle. Montagezeit: Tage statt Monate.
Diese Industrialisierung senkt Kosten dramatisch. Vonovia reduzierte die Sanierungskosten von anfangs 2000 Euro auf unter 1000 Euro pro Quadratmeter. Das ist immer noch teuer, aber es nähert sich der Wirtschaftlichkeitsschwelle. Die wahre Disruption liegt in der Skalierung: Was heute zehn Pilotprojekte sind, könnten morgen tausende sein.
Das Spektrum elektrischer Heizsysteme
Heizglas ist nur eine Option im wachsenden Portfolio strombasierter Heiztechnologien. Wärmepumpen dominieren den Neubau bereits heute mit über 50 Prozent Marktanteil. Ihre Effizienz ist unschlagbar: Aus einer Kilowattstunde Strom generieren moderne Geräte drei bis vier Kilowattstunden Wärme. Doch im Altbau stoßen Wärmepumpen an Grenzen – hohe Vorlauftemperaturen, fehlender Platz für Außeneinheiten, Lärmproblematik in dichten Quartieren.
Infrarot-Heizdecken und -paneele bieten Alternativen. Sie arbeiten nach demselben Prinzip wie Heizglas, sind aber flexibler einsetzbar und günstiger. Ein Düsseldorfer Start-up entwickelte kürzlich Carbonfaser-Heiztapeten, die sich unter Putz verlegen lassen. Der Clou: Die Tapeten “lernen” das Nutzerverhalten und heizen prädiktiv. Morgens um 6:30 Uhr ist das Bad warm, ohne dass jemand einen Schalter umlegen muss.
Wasserstoff-ready oder Elektrifizierung total?
Die Debatte um die Zukunft der Wärmeversorgung polarisiert. Gasversorger propagieren “H2-ready” Heizungen, die heute mit Erdgas laufen und morgen auf Wasserstoff umgestellt werden können. Kritikerinnen und Kritiker nennen das Augenwischerei – grüner Wasserstoff wird auf Jahrzehnte zu knapp und zu teuer für die Gebäudeheizung sein. Die Physik spricht gegen Wasserstoff im Wärmemarkt: Die Umwandlungsverluste von Strom zu Wasserstoff zu Wärme summieren sich auf 60 bis 70 Prozent.
Elektrifizierung erscheint alternativlos, doch die Infrastruktur ächzt bereits heute. Ein vollständig elektrifizierter Gebäudesektor würde die Spitzenlast im Winter verdoppeln. Smart Grids, Lastmanagement und Speichertechnologien werden zur Conditio sine qua non. Vonovias Heizglas-Experiment zeigt einen Weg: dezentrale Erzeugung, intelligente Steuerung, radikale Effizienzsteigerung.
Die soziale Dimension der Wärmewende
Technologie allein löst keine Probleme. Die entscheidende Frage lautet: Wer kann sich die Wärmewende leisten? Vonovia verspricht warmmietenneutrale Sanierung – höhere Kaltmieten werden durch niedrigere Heizkosten kompensiert. Das Versprechen basiert auf der Annahme dauerhaft günstigen Solarstroms vom eigenen Dach. Was passiert im Winter? Was bei Ausfall der Photovoltaik? Die Abhängigkeit von einer einzigen Energiequelle birgt Risiken.
Gleichzeitig zeigt sich ein Generationenkonflikt. Junge Mieterinnen und Mieter akzeptieren digitale, strombasierte Heizsysteme problemlos. Die Generation 60+ hingegen misstraut der Technik, vermisst den gewohnten Heizkörper, fürchtet Elektrosmog. Vonovia reagiert mit Aufklärungskampagnen und Technik-Sprechstunden. Der kulturelle Wandel wird länger dauern als der technische.
Ausblick: Die fragmentierte Zukunft
Die eine Lösung für die Wärmewende existiert nicht. Heizglas wird seine Nische finden – in denkmalgeschützten Gebäuden, wo Außendämmung unmöglich ist, in Bürotürmen mit hohem Glasanteil, in Luxusimmobilien mit Technikaffinität. Die Masse der 19 Millionen Bestandsgebäude in Deutschland wird einen Mix aus Wärmepumpen, Fernwärme, Infrarotheizungen und ja, auch Heizglas sehen.
Die serielle Sanierung à la Energiesprong weist den Weg: Nicht die einzelne Technologie entscheidet, sondern die systemische Optimierung. KI-gestützte Planung, robotische Fertigung, modulare Bauweise – die Bauindustrie durchläuft ihre digitale Transformation. Vonovia macht vor, was möglich ist. Ob es auch sinnvoll ist, wird sich in den kommenden Wintern zeigen, wenn die Heizgläser in Köln-Kalk erstmals unter Volllast laufen.

Wie Österreich seine Denkmaler digital rettet – und real gefährdet

Die Pixellüge: Wie KI-Bilder die Architektur korrumpieren









