Baukunst - Thüringens Betonparadox: Zwischen Versiegelungsrekord und Nachhaltigkeitsvision
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Thüringens Betonparadox: Zwischen Versiegelungsrekord und Nachhaltigkeitsvision

23.09.2025
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Claudia Grimm

Das grüne Herz schlägt noch – aber unter einer dünnen Betonschicht

Suhl macht es vor: Mit gerade einmal 30 Prozent versiegelter Siedlungsfläche hält die thüringische Stadt den bundesweiten Rekord als am wenigsten zubetonierte Kommune Deutschlands. Ein bemerkenswerter Kontrapunkt zu Ludwigshafen am Rhein, wo 67 Prozent der Flächen unter Asphalt und Beton verschwunden sind. Doch dieser Erfolg täuscht über ein grundlegendes Problem hinweg, das auch den Freistaat erfasst hat: Die schleichende Versiegelung schreitet voran – täglich verschwinden deutschlandweit 55 Hektar Boden unter undurchlässigen Schichten, eine Fläche größer als 70 Fußballfelder.

Novellierte Bauordnung: Fortschritt mit Fragezeichen

Die im Juli 2024 in Kraft getretene Thüringer Bauordnung sollte eigentlich die Bauwende einläuten. Tatsächlich bringt sie einige bemerkenswerte Erleichterungen: Das Abstandsflächenrecht wurde entschlackt, der umstrittene “nachbarliche Wohnfrieden” als Rechtsbegriff gestrichen, digitale Bauanträge sind nun möglich. Besonders die Klarstellung in § 6 ThürBO 2024, dass Abstandsflächen primär der Belichtung und Belüftung dienen, reduziert die Streitanfälligkeit bei Nachverdichtungsprojekten erheblich.

Doch bei genauerer Betrachtung offenbaren sich die Schwächen der Reform. Verbindliche Prüffristen für Bauanträge? Fehlanzeige. Eine Genehmigungsfiktion bei behördlicher Untätigkeit? Nicht vorgesehen. Die digitale Revolution im Bauamt? Mangels flächendeckender IT-Infrastruktur vorerst vertagt. Die Novelle gleicht einem modernen Sportwagen mit angezogener Handbremse – theoretisch leistungsstark, praktisch ausgebremst.

Das Brachflächendilemma: 1.000 Chancen warten auf Erweckung

Fast 1.000 brachliegende Standorte ab 3.000 Quadratmetern Größe schlummern im thüringischen Brachflächenkataster – potenzielle Baugrundstücke, die auf ihre Renaissance warten. Die LEG Thüringen dokumentiert akribisch diese ungenutzten Ressourcen, doch die Reaktivierung stockt. Hier liegt der neuralgische Punkt der thüringischen Flächenpolitik: Während täglich neue Flächen versiegelt werden, verfallen andernorts Industriebrachen und ehemalige Gewerbeflächen.

Die Gründe sind vielschichtig: Altlastenproblematik, komplizierte Eigentumsverhältnisse, fehlende Investoren. Besonders in strukturschwachen Regionen Ostthüringens gleicht die Revitalisierung einer Sisyphusarbeit. Dabei wäre gerade hier der Hebel anzusetzen – jede reaktivierte Brache spart Neuversiegelung an anderer Stelle.

Regionale Disparitäten: Ein Land, zwei Welten

Während Erfurt, Jena und Weimar unter Wachstumsdruck ächzen und händeringend nach Bauland suchen, kämpfen ländliche Regionen mit Leerstand und Verfall. Diese Zweiklassengesellschaft der Flächennutzung spiegelt sich auch in den kommunalen Haushalten wider. Städte wie Suhl profitieren paradoxerweise von ihrer geringen Versiegelung durch niedrigere Infrastrukturkosten, während hochversiegelte Kommunen bei Starkregenereignissen mit millionenschweren Schäden konfrontiert werden.

Die unterschiedlichen Versiegelungsgrade korrelieren dabei nicht nur mit der Bevölkerungsdichte, sondern auch mit der historischen Entwicklung. DDR-Plattenbausiedlungen mit ihren großzügigen Grünflächen schneiden oft besser ab als westdeutsche Gewerbegebiete der 1990er Jahre, die nach dem Prinzip maximaler Flächenausnutzung entstanden.

Klimaanpassung als Treiber: Schwammstadt statt Betonwüste

Die zunehmenden Extremwetterereignisse zwingen zum Umdenken. Erfurts Pilotprojekte zur Schwammstadt-Entwicklung zeigen, dass Entsiegelung mehr ist als grüne Romantik – sie ist überlebenswichtige Klimaanpassung. Rasengittersteine statt Asphalt, Versickerungsmulden statt Kanalisation, Gründächer statt Betondächer – die technischen Lösungen existieren, scheitern aber oft an den Kosten und am mangelnden Bewusstsein der Bauherrinnen und Bauherren.

Besonders brisant: Die gesplittete Abwassergebühr, die versiegelte Flächen mit bis zu 1,80 Euro pro Quadratmeter belastet, entfaltet noch nicht die erhoffte Lenkungswirkung. Zu gering sind die finanziellen Anreize, zu hoch die Investitionskosten für Entsiegelungsmaßnahmen.

Thüringens Nachhaltigkeitsvision: Netto-Null als Fernziel

Der Freistaat hat sich ambitionierte Ziele gesetzt: Langfristig soll die Netto-Flächenversiegelung auf null sinken – ein Vorhaben, das angesichts der aktuellen Entwicklung utopisch anmutet. Denn während die Politik von Nachhaltigkeit spricht, genehmigen dieselben Behörden weiterhin großflächige Gewerbegebiete auf der grünen Wiese.

Die Krux liegt im föderalen System: Kommunale Planungshoheit trifft auf übergeordnete Nachhaltigkeitsziele. Solange Gewerbesteuereinnahmen wichtiger sind als Bodenschutz, wird sich wenig ändern. Interkommunale Gewerbegebiete mit Steuerausgleich könnten ein Lösungsansatz sein – doch dafür müssten Kommunen ihre Kirchturmpolitik überwinden.

Ausblick: Evolution statt Revolution

Thüringen steht exemplarisch für die deutsche Flächenversiegelungsproblematik: Man weiß um die Herausforderung, hat durchaus innovative Ansätze, scheitert aber an der konsequenten Umsetzung. Die neue Bauordnung ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nur ein kleiner. Was fehlt, ist der große Wurf – eine Flächenkreislaufwirtschaft, die Neuversiegelung nur noch bei gleichzeitiger Entsiegelung an anderer Stelle zulässt.

Die Instrumente liegen bereit: Brachflächenkataster, gesplittete Abwassergebühr, technische Alternativen zu klassischer Versiegelung. Was es braucht, ist politischer Mut zur konsequenten Steuerung und die Bereitschaft, kurzfristige wirtschaftliche Interessen hinter langfristige ökologische Notwendigkeiten zurückzustellen. Suhl macht vor, dass es geht – die Frage ist nur, ob andere Kommunen folgen wollen.