Baukunst - Von der Schönheit des Scheiterns: DDR-Architekturvisionen als Kulturerbe
Wie die DDR eine Zukunft zeichnete, die nie Beton wurde © Baukunst.art

Von der Schönheit des Scheiterns: DDR-Architekturvisionen als Kulturerbe

20.09.2025
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Berthold Bürger

Zwischen Reißbrett und Revolution

Die Zeichnung atmet noch immer. Auf vergilbtem Papier flanieren winzige Menschen durch eine Zukunft, die 1968 greifbar schien: Der Wettbewerbsentwurf für den Bayerischen Platz in Leipzig der Architektengruppe ZE4 um Günter Reiss zeigt eine städtebauliche Symphonie aus Beton und Licht. Ein Kinderwagen hier, dort ein Mann mit Zigarette, der zaghaft die neue sozialistische Urbanität betritt. Im Zentrum des Platzes deutet sich ein Rendezvous an, vielleicht mit Blumenstrauß – eine alltägliche Szene in einer außergewöhnlichen Vision.

Was heute in der Tchoban Foundation in Berlin als Teil der Ausstellung “Pläne und Visionen – Gezeichnet in der DDR” hängt, war einmal mehr als nur Papier. Es war die materielle Manifestation eines kollektiven Traums, in dem Architektur nicht nur Raum schafft, sondern Gesellschaft formt. Diese Entwürfe waren Versprechen in Tusche und Tempera, Prophezeiungen einer besseren Welt, die sich in geschwungenen Linien und kühnen Proportionen materialisieren sollte.

Die Poesie des Ungebauten

Werner Rösler, einst Mitarbeiter an der Berliner Bauakademie, beherrschte die Kunst, Räume zu träumen, bevor sie existierten. Seine großformatigen Zeichnungen vom Innenleben des Palasts der Republik schweben zwischen Dokumentation und Imagination. Sie zeigen Räume, die gleichzeitig monumental und intim wirken, durchflutet von einem Licht, das es so nur auf Papier geben kann – goldener als jede reale Sonne, die durch sozialistische Fenster fiel.

Die ästhetische Kraft dieser Visionen liegt nicht in ihrer Verwirklichung, sondern in ihrer Verweigerung, sich der Realität zu beugen. Lutz Brandts satirische “Balkonträumereien” für die Zeitschrift “Magazin” transformierten die monotonen Loggien der Plattenbauten in mediterrane Oasen. Mit Baugerüst und üppiger Begrünung, mit zweckentfremdeten Grills und improvisierten Außenduschen schuf er eine Parallelwelt, in der die standardisierte Wohnung zum individuellen Paradies mutierte.

Semantische Architektur als kultureller Code

Hermann Henselmann, der Meister der semantischen Architekturkonzeption, verstand Gebäude als überdimensionale Plastiken, die die Seele einer Stadt artikulieren sollten. Sein Universitätshochhaus in Leipzig – ein aufgeschlagenes Buch aus Beton und Glas, gekrönt von einer geschwungenen Spitze wie eine wehende Fahne – war mehr als nur Funktionsbau. Es war gebaute Metapher, architektonische Lyrik, die das Charakteristische einer Stadt in monumentaler Bildhaftigkeit einfing.

Diese Formensprache entsprang nicht nur ideologischen Vorgaben, sondern auch einer tief verwurzelten Sehnsucht nach Schönheit in einer Gesellschaft, die zwischen den Polen von Utopie und Pragmatismus oszillierte. Die Architekten und Architektinnen der DDR entwickelten eine eigene ästhetische Grammatik: eine Verschmelzung aus internationaler Moderne und lokaler Tradition, aus sowjetischer Monumentalität und deutscher Handwerkskunst.

Material als Versprechen

Die Materialästhetik der nie realisierten Entwürfe offenbart eine sinnliche Dimension sozialistischer Architektur, die in der gebauten Realität oft verloren ging. Michael Knys “Babylonische Türme” – betitelt als “Sächsisches Babel” oder “Breughels Babylon vollendet” – experimentierten mit Texturen und Oberflächen, die jenseits der standardisierten Betonelemente lagen. Diese Zeichnungen suggerierten eine haptische Qualität, die man fast spüren konnte: raue Natursteine neben glattem Glas, warmes Holz im Dialog mit kühlem Stahl.

Die Farbigkeit dieser Visionen steht im krassen Kontrast zum grauen Klischee der DDR-Architektur. Aquarelle in Azurblau und Sonnengelb, Tuschezeichnungen mit subtilen Schattierungen, Collagen aus verschiedenen Materialien – all das zeugt von einer chromatischen Sensibilität, die im realen Bauwesen selten zur Entfaltung kam.

Licht als Protagonist

In den Architekturzeichnungen der DDR spielte Licht eine Hauptrolle. Es war nicht nur funktionales Element, sondern emotionaler Katalysator. Die Entwürfe zeigen Räume, die von dramatischen Lichtführungen durchzogen sind: Schattenwürfe, die wie abstrakte Kunstwerke über Plätze wandern, Glasfassaden, die das Sonnenlicht in tausend Reflexe zersplittern, Innenräume, die in mystisches Dämmerlicht getaucht sind.

Diese Lichtdramaturgie war mehr als technische Notwendigkeit. Sie war Ausdruck einer Sehnsucht nach Transzendenz in einer materialistischen Weltanschauung, ein Versuch, dem Alltag eine sakrale Dimension zu verleihen. Die Architektur sollte nicht nur Schutz bieten, sondern erheben, nicht nur funktionieren, sondern inspirieren.

Das Erbe der Unerfüllten

Heute, da Gebäude wie das Sport- und Erholungszentrum (SEZ) in Berlin von Abriss bedroht sind, gewinnen die nie realisierten Visionen eine melancholische Aktualität. Sie erinnern daran, dass Architektur immer auch Projektion ist, dass jeder gebaute Raum zunächst als Idee existiert. Die Zeichnungen aus den Schubladen der DDR-Architekten und Architektinnen sind nicht nur historische Dokumente, sondern zeitlose Meditationen über die Möglichkeiten von Raum und Form.

Die aktuelle Wiederentdeckung dieser Entwürfe – sei es in Ausstellungen wie in der Tchoban Foundation oder in wissenschaftlichen Publikationen – zeigt, dass ihre ästhetische Kraft ungebrochen ist. Sie inspirieren zeitgenössische Architekturschaffende, die in ihnen nicht nur retrofuturistische Kuriositäten sehen, sondern genuine Beiträge zu einem architektonischen Diskurs, der über Systemgrenzen hinausreicht.

Die wahre Tragik dieser ungebauten Zukunft liegt nicht in ihrem Scheitern, sondern in ihrer fortdauernden Relevanz. Die Fragen, die diese Entwürfe stellten – nach gemeinschaftlichem Wohnen, nach der Integration von Kunst und Architektur, nach der Humanisierung urbaner Räume – sind heute aktueller denn je. In einer Zeit, da nachhaltige Schönheit und ökologische Ästhetik zu zentralen Themen werden, erscheinen die visionären Zeichnungen der DDR als prophetische Dokumente einer alternativen Moderne.