
THÜRINGER INFRASTRUKTUR-DILEMMA
Zwischen Ambition und Machbarkeit
Ein Millionenprogramm offenbart die Grenzen regionaler Gestaltungskraft
Thüringens Kommunen ersticken in ihren eigenen Sanierungsrückständen. Mit einer Milliarde Euro verspricht die Landesregierung Abhilfe – doch während die einen von historischer Investitionschance sprechen, warnen die anderen vor versteckten Schuldenfallen. Ein Blick auf die Realität zwischen politischem Anspruch und architektonischer Verantwortung.
MAGNITUDE DES PROBLEMS
Der Sanierungsstau ist keine akademische Debatte in Thüringen – es ist eine Krise mit Klassenraum-Ausmaßen. Nach der jüngsten Bestandsaufnahme des Landesrechnungshofs haben sich die notwendigen Sanierungsinvestitionen auf 3,3 Milliarden Euro aufgetürmt. Das ist nicht die übliche politische Übertreibung, sondern das Ergebnis einer systematischen Analyse von 28 Schulgebäuden und Sporthallen landesweit. Die Bilanz fällt verheerend aus: Etwa die Hälfte der besichtigten Schulen erfüllt nicht einmal die elementaren Anforderungen für zeitgemäße Lernumgebungen. Barrierefreiheit? Für viele ein unerfüllter Traum. Digitale Infrastruktur? Oft nicht vorgesehen.
Das Traurige daran ist nicht nur die materielle Vernachlässigung, sondern was sie symbolisiert. Wenn Schülerinnen und Schüler in Gebäuden lernen, die ihre Möglichkeiten obsolet machen, bevor sie überhaupt entstehen können, dann verfallen nicht nur Schulbauten – es verfallen Zukunftschancen. Regional ist dies ein Phänomen mit überregionalen Implikationen: Während wohlhabendere Bundesländer längst modernisiert haben, spielen Thüringens Kommunen noch Rückwärtsrolle.
MILLIARDENSVERSPRECHEN MIT KLEINEM DRUCK DAHINTER
Finanzministerin Katja Wolf von der BSW hat mit ihrem neu aufgelegten Kommunalen Investitionsprogramm ein ambitioniertes Ziel ausgerufen. Eine Milliarde Euro für die kommenden vier Jahre – 250 Millionen jährlich – soll den Kommunen zu einem neuen Investments-Schub verhelfen. Das Programm ist tatsächlich das größte seiner Art seit 1990. Klingt nach echtem Aufbruch.
Nur: Der Mechanismus ist trickreicher als die Schlagzeilen vermuten lassen. Die Gelder fließen nicht als klassische Zuweisungen, sondern als Kredite über die Thüringer Aufbaubank. Das bedeutet in der Praxis: Das Land übernimmt Zins und Tilgung. Für Kommunen mit stabilen Haushalten eine interessante Lösung, für andere ein Gewinn. Kommunalminister Georg Maier (SPD) betont daher zu Recht, dass Investitionen mehr als Bauprojekte sind: „Gute Demokratie zeigt sich nicht nur in Gesetzen, sondern auch im Alltag.” Das ist der richtige Gedanke – wenn die Umsetzung folgt.
Ein Problem bleibt dennoch: Die Minderheitsregierung aus Brombeerkoalition braucht für das Programm die Zustimmung der Opposition. Sowohl AfD als auch Die Linken haben bereits Bedenken angemeldet.
DAS OPPOSITION-PARADOXON
Kritik ist legitim, und in diesem Fall auch nachvollziehbar. Sascha Bilay, kommunalpolitischer Sprecher der Thüringer Linken, rechnet vor: Bei Rückzahlungen ab 2030 inklusive Zinsen könnte aus der einen Milliarde leicht anderthalb Milliarden werden. Das sind keine abstrakten Zahlen – das sind Fesseln an zukünftige Haushalte.
Die Alternative, die Bilay vorschlägt, hat Charme: Würden Bundesmittel direkt an die Kommunen fließen – etwa 100 Millionen Euro jährlich über zwölf Jahre – ergäbe das insgesamt 1,2 Milliarden Euro. Vor allem aber: Die Kommunen hätten die dreifache Zeit, ihre Planungen zu bewerkstelligen. Das ist nicht kleinlich gemäkelt, das ist strategisches Denken. Denn jeder erfahrene Architekt weiß, dass gute Sanierungen nicht in vier Jahren geplant und gebaut werden – sie entstehen in iterativen Prozessen mit viel Bedacht.
Hier offenbaren sich die regionalen Besonderheiten Thüringens in voller Schärfe. Ein strukturell schwaches Bundesland mit knappen Mitteln muss zwischen zwei strategischen Logiken wählen: schnelle Sichtbarkeit politischer Erfolge oder nachhaltige, durchdachte Infrastrukturpolitik. Nicht selten sind das antagonistische Ziele.
REGIONALE REALITÄTEN
Die Planungsausschreibungen im Thüringer Schulbau haben in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen – ein positives Signal. Es bedeutet, dass Kommunen überhaupt wieder zu investieren wagen. Doch vor dem Hintergrund sinkender Schülerzahlen stellt sich eine unbequeme Frage, die der Rechnungshof zu Recht aufwirft: Welche Gebäude braucht man überhaupt noch?
Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine stadtentwicklerische und architektonische Frage. In vielen Thüringer Regionen verzeichnet man Bevölkerungsrückgänge – besonders im ländlichen Raum. Gigantische Schulneubauten wären ökologisch, ökonomisch und sozial unverantwortlich. Stattdessen bedarf es intelligenter Nachnutzungskonzepte, der Umwandlung und behutsamen Ergänzung bestehender Strukturen.
Wolf hat angekündigt, die Kommunalordnung zu ändern – unter anderem, um auch Städten und Gemeinden in Haushaltssicherung Zugang zu Krediten zu geben. Das ist eine gute Botschaft für strukturschwache Regionen. Doch die Details fehlen, und bei Kommunalfinanzen sind die Details alles.
ZWISCHEN KRISE UND CHANCE
Was Thüringen derzeit durchlebt, ist nicht spezifisch für dieses Bundesland – es ist ein bundesweites Phänomen, das sich regional unterschiedlich manifestiert. Der Westen Deutschlands vergab in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung massiv in Schulbauten. Der Nordosten, Thüringen miteingeschlossen, musste strukturelle Transformation bewältigen und investierte oft defensiv. Jetzt schlägt die Stunde der Rechnungen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Für Architektinnen und Architekten eröffnet sich dadurch ein Handlungsfeld großen Ausmaßes. Nicht Luxussanierungen stehen an, sondern intelligente, pragmatische Lösungen. Das ist demütigend für den ästhetischen Anspruch, aber es ist auch befreiend: Gute Architektur ist nicht teuer – sie ist klug.
AUSBLICK
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Opposition dem Programm zustimmt. Denn trotz aller politischen Gegensätze: Niemand profitiert davon, dass Schülerinnen und Schüler in Ruinen lernen. Die eigentliche Debatte ist eine zwischen zwei legitimen Logiken – Geschwindigkeit versus Bedachtheit. Ideal wäre ein Mittelweg: schnell genug, um Sichtbarkeit zu schaffen, bedacht genug, um nachhaltige Strukturen aufzubauen.
Das Milliardenversprechen Thüringens ist daher weder die Rettung noch die Katastrophe – es ist, was regionale Infrastrukturpolitik immer ist: ein Versuch, unter Druck das Richtige zu tun. Ob das gelingt, werden nicht die Zahlen entscheiden, sondern die Projekte, die daraus entstehen.

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