Baukunst - Zürichs Jahrhundertplan: Wie die reichste Stadt der Schweiz den Autoverkehr vor die Tür setzt
Grüne Wende am Paradeplatz des Kapitals © Studio Vulkan

Wie die reichste Stadt der Schweiz den Autoverkehr vor die Tür setzt

22.09.2025
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Ignatz Wrobel

Zürichs Jahrhundertchance am Hauptbahnhof

Nach fünfundfünfzig Jahren Dominanz des motorisierten Verkehrs wagt die Stadt Zürich den Befreiungsschlag. Mit dem Weissbuch «Stadtraum Hauptbahnhof 2050» zeigt die Stadt auf, wie das Zentrum von Zürich für die künftigen Anforderungen vorbereitet werden soll. Ein Dokument zwischen Euphorie und Realismus, zwischen grüner Vision und verkehrspolitischem Minenfeld.

Der lange Weg zur Visitenkarte

Wer heute über den Bahnhofplatz hastet, zwischen Tramgleisen, Bussen und eiligen Passantinnen navigiert, kann sich kaum vorstellen, dass dieser Ort einmal ein repräsentativer Platz war. Seit dem 1. Oktober 1970 ist der Bahnhofplatz fussverkehrfrei – seit fünfundfünfzig Jahren! Die Eröffnung des Shop-Ville verbannte die Fussgängerinnen und Fussgänger in den Untergrund. Während andere Schweizer Städte längst umgedacht haben – Genf machte 2004 den Anfang, Bern folgte 2008 – blieb Zürich in seiner automobilen Zeitkapsel gefangen.

Das Weissbuch ist das Ergebnis eines fünfjährigen Planungsprozesses, ausgelöst durch die Motion GR Nr. 2014/308. Unter der Federführung des Tiefbauamts entstand in Zusammenarbeit mit den SBB, den Verkehrsbetrieben Zürich und weiteren städtischen Dienstabteilungen eine Vision, die mehr ist als nur ein städtebauliches Konzept. Es ist eine Kampfansage an den Status quo.

Ordnungsprinzipien für das Chaos

Die Entwicklungsvorstellung für den Stadtraum Hauptbahnhof bis ins Jahr 2050 basiert auf den stadträumlichen Ordnungsprinzipien «Tore» und «Grüne Spitze». Was abstrakt klingt, bedeutet konkret: Die Stadt will aus dem heutigen Verkehrschaos einen strukturierten, lesbaren Stadtraum formen. Die «Grüne Spitze» – eine durchgängige Parklandschaft von der Sihl über den Platzspitz bis zum Papierwerd-Areal – soll die aussergewöhnliche Lage zwischen zwei Flüssen endlich zur Geltung bringen.

Besonders radikal ist die geplante Transformation des Central. Der Central soll zu einem grosszügigen Platz sowie zu einem Tor ins Hochschulquartier und ins Niederdorf werden. Wer den heutigen Zustand kennt – ein chaotischer Verkehrsknoten, den selbst Einheimische meiden – ahnt die Dimension des Vorhabens.

Tramrevolution auf der Bahnhofbrücke

Die vielleicht kontroverseste Idee: Die Haltestelle «Central» soll gemäss Planung auf die Gerade der Bahnhofbrücke verschoben werden, wodurch ein durchgehend hindernisfreier Ein- und Ausstieg zu Tram und Bus möglich würde. Im Gegenzug entfällt langfristig die Haltestelle Löwenplatz. Die Löwenstrasse würde zur reinen Flanier- und Einkaufsmeile – eine Vision, die bei Detailhändlerinnen und Detailhändlern gemischte Gefühle auslöst.

Diese Neuorganisation des öffentlichen Verkehrs folgt einer klaren Hierarchie: Der motorisierte Individualverkehr wird auf der Achse Walchebrücke, Bahnhofquai (im Tunnel) und Mühlegasse gebündelt. Das Prinzip ist eindeutig: Mit dem Auto in die Stadt hinein, ja. Durch die Stadt hindurch, lieber nicht.

Zahlenspiele und Realitäten

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Heute bewegen sich in dem Gebiet täglich rund 700’000 Fussgängerinnen und Fussgänger. Bis 2050 dürften es gemäss Weissbuch 900’000 werden. Diese Prognose basiert auf der wachsenden Bevölkerung und dem Ausbau des Hochschulgebiets. Allein diese Zahlen zeigen: Ein Weiter-wie-bisher ist keine Option.

Die klimapolitischen Vorgaben verschärfen den Handlungsdruck zusätzlich. Die Stimmbevölkerung hat das Netto-Null-Ziel bis 2040 beschlossen. Wir müssen den motorisierten Individualverkehr bis 2040 um 30 Prozent reduzieren. Stadträtin Simone Brander lässt keinen Zweifel: Diese Ziele sind nicht verhandelbar.

Testplanung als Demokratieübung

Bemerkenswert ist der Entstehungsprozess des Weissbuchs. Die Stadt hat mittels Testplanung in einem Konkurrenzverfahren von interdisziplinären Fachteams unterschiedliche Lösungsansätze ausgetestet. Nach der ersten Stufe mit vier Teams vertieften zwei ihre Beiträge. Das Siegerteam um Studio Vulkan überzeugte mit einer Vision, die vorhandene Qualitäten herausschält und stärkt, statt alles neu zu erfinden.

Eine Echogruppe bezog Quartier- und Gewerbevereine, die City Vereinigung und Verkehrsverbände kontinuierlich ein. Diese partizipative Herangehensweise unterscheidet sich wohltuend von Top-down-Planungen vergangener Jahrzehnte.

Der politische Gegenwind

Erwartungsgemäss formiert sich Widerstand. Die SVP lehnt die Vision «Stadtraum Hauptbahnhof 2050» dezidiert ab und spricht von einer «autofeindlichen Litanei» aus der «links-grünen Stadtzürcher Politblase». Die Partei sieht die individuelle Mobilität bedroht und fordert stattdessen eine Begrenzung der Zuwanderung.

Diese Opposition zeigt das Grunddilemma Schweizer Verkehrspolitik: Während die einen von einer lebenswerten, grünen Stadt träumen, pochen die anderen auf freie Fahrt für freie Bürgerinnen und Bürger. Der Kanton Zürich, der bei Staatsstrassen das letzte Wort hat, könnte zum Zünglein an der Waage werden.

Erste Schritte sind getan

Trotz aller Widerstände: Die Transformation hat begonnen. Mit der Eröffnung des Stadttunnels wurde ein wichtiger Meilenstein für die Veloverbindungen bereits erreicht und mit der Postterrasse beim Europaplatz entsteht ein Aufenthaltsort ohne Konsumzwang direkt an der Sihl. Diese ersten Massnahmen zeigen: Die Vision ist mehr als Papier.

Die etappenweise Umsetzung über mehrere Jahrzehnte ist dabei Fluch und Segen zugleich. Einerseits erlaubt sie Anpassungen und Korrekturen, andererseits droht die Vision im politischen Hickhack zu verwässern. Stadträtin Brander gibt sich kämpferisch: “Es braucht jetzt detailliertere Planungen. Daran arbeiten wir.”

Regionale Strahlkraft

Für die Schweiz ist das Zürcher Weissbuch mehr als eine lokale Angelegenheit. Als grösster Bahnhof des Landes mit werktags über 460’000 Besuchern – fünfmal mehr als der Flughafen Zürich zu seinen besten Zeiten – setzt Zürich Standards. Gelingt die Transformation, könnte sie zum Modell für andere Schweizer Städte werden, die mit ähnlichen Herausforderungen kämpfen.

Die föderalistische Struktur der Schweiz zeigt sich auch hier: Stadt, Kanton und Bund müssen zusammenspielen. Die SBB als Eigentümerin des Bahnhofs, die städtischen Verkehrsbetriebe, kantonale Strassenbehörden – alle müssen an einem Strang ziehen. Ein typisch schweizerischer Kompromissmarathon steht bevor.

Fazit: Durchhaltevermögen gefragt

Das Weissbuch «Stadtraum Hauptbahnhof 2050» ist mehr als eine städtebauliche Vision. Es ist ein Gesellschaftsentwurf, der zeigt, wie Zürich mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgehen will: Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Mobilitätswende. Die Vision einer grünen Halbinsel zwischen Limmat und Sihl, eines autoarmen Zentrums mit hoher Aufenthaltsqualität, ist verlockend.

Ob aus der Vision Realität wird, hängt vom politischen Willen ab – und vom Durchhaltevermögen aller Beteiligten. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Zürich den Mut hat, seine Visitenkarte neu zu gestalten. Nach fünfundfünfzig Jahren Stillstand wäre es an der Zeit.

Weiterführende Informationen

Das Weissbuch im Detail

Das vollständige Weissbuch «Stadtraum Hauptbahnhof 2050» ist öffentlich zugänglich unter: www.stadt-zuerich.ch/weissbuch-hb-2050

Visualisierungen und Pläne

Die Visualisierungen des Siegerteams Studio Vulkan & Atelier Corso mit detaillierten Ansichten der geplanten Transformation finden Sie unter:

Zeitplan und Etappen

  • 2014: Motion im Gemeinderat eingereicht
  • 2019-2024: Fünfjähriger Planungsprozess mit zweistufiger Testplanung
  • September 2025: Verabschiedung des Weissbuchs durch den Stadtrat
  • 2025-2030: Erste Umsetzungsetappen (bereits begonnen mit Stadttunnel und Postterrasse)
  • 2030-2040: Hauptphase der Transformation
  • Ab 2050: Finale Umsetzung (u.a. Umwandlung Löwenstrasse zur Flaniermeile)

Schlüsselzahlen

  • 700’000 Fussgängerinnen und Fussgänger täglich heute
  • 900’000 erwartete Nutzerinnen und Nutzer 2050
  • 30% Reduktion des motorisierten Individualverkehrs bis 2040 (städtisches Ziel)
  • 460’000 Besucherinnen und Besucher werktäglich am HB
  • 5 Jahre Planungsprozess für das Weissbuch
  • 55 Jahre seit der Eröffnung des Shop-Ville und der Verbannung der Fussgänger vom Bahnhofplatz

Beteiligte Institutionen

  • Federführung: Tiefbauamt der Stadt Zürich
  • Partner: SBB, Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ), Amt für Städtebau
  • Siegerteams Testplanung:
  • Studio Vulkan (Landschaftsarchitektur), Hosoya Schaefer Architects, IBV Hüsler AG, B&S Ingenieure, Brigit Wehrli-Schindler, Drees & Sommer, Atelier Brunecky (Visualisierungen)
  • Atelier Corso (Städtebau, Lead), Uniola (Landschaftsarchitektur), Basler & Hofmann (Verkehr), Albprojekte (Sozialraum), Dome Visuals (Visualisierungen).

Newsletter und Updates

Für regelmässige Informationen zur Entwicklung des Stadtraums Hauptbahnhof können Interessierte den Newsletter der Stadt Zürich abonnieren unter: www.stadt-zuerich.ch/stadtraum-hb

Kontakt für Rückfragen

Tiefbauamt der Stadt Zürich Projektleitung Masterplan HB/Central stadtraum-hb@zuerich.ch