Baukunst - Herzog & de Meurons Milliardenquartier: Wie Münchens Bahnhofsviertel seine Schmuddelecken-Image loswerden will
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Herzog & de Meurons Milliardenquartier: Wie Münchens Bahnhofsviertel seine Schmuddelecken-Image loswerden will

17.09.2025
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Claudia Grimm

THE VERSE: Münchens Bahnhofsviertel zwischen Verdichtung und Verheißung

Das Münchner Bahnhofsviertel hat schon vieles gesehen: Gründerzeitlichen Glanz, kriegsbedingte Zerstörung, zwielichtige Rotlichtromantik und nun die nächste Metamorphose. Mit THE VERSE entsteht hier bis 2027 ein Quartier, das exemplarisch für die Herausforderungen bayerischer Stadtentwicklung steht. Herzog & de Meuron interpretieren dabei nicht nur ein schwieriges Grundstück neu, sondern navigieren geschickt durch die Untiefen der Bayerischen Bauordnung und münchnerischer Planungskultur.

Zwischen Hauptbahnhof und Theresienwiese: Ein Standort im Spannungsfeld

Das Areal zwischen Bayer-, Schwanthaler-, Paul-Heyse- und Mittererstraße liegt im Epizentrum städtebaulicher Umbrüche. Die Nähe zum derzeit komplett neugestalteten Hauptbahnhof macht das Quartier zum Gravitationszentrum der sich wandelnden Münchner Innenstadt. Was die Entwicklerinnen und Entwickler von ACCUMULATA gemeinsam mit Oaktree Capital Management hier realisieren, folgt einer spezifisch münchnerischen Logik: maximale Verdichtung bei gleichzeitiger Schaffung von Aufenthaltsqualität – ein Balanceakt, den die Stadtgestaltungskommission mit Argusaugen beobachtet.

Die bayerische Landeshauptstadt ringt seit Jahren mit ihrer eigenen Attraktivität. Der Zuzugsdruck, die astronomischen Grundstückspreise und die restriktive Höhenbegrenzung der Münchner Bauordnung zwingen Planerinnen und Planer zu kreativen Lösungen. THE VERSE nutzt diese Zwänge produktiv: Mit über 70.000 Quadratmetern Mietfläche auf einem verhältnismäßig kompakten Grundstück entsteht hier eine der größten Innenstadtentwicklungen Münchens – bei einer Höhe von gerade einmal 30 Metern.

Grüne Lunge statt graue Energie: Der Nachhaltigkeitsansatz

Robert Hösl, Partner bei Herzog & de Meuron, spricht von einer “Verfeinerung des nachhaltigen Konzepts”. Dahinter verbirgt sich mehr als übliche Architektenprosa. Der Teilerhalt des Bestandsrohbaus bis zum dritten Obergeschoss spart nicht nur graue Energie, sondern ist auch eine Verneigung vor der Münchner Tradition des behutsamen Stadtumbaus. Die Bayerische Bauordnung mit ihren spezifischen Anforderungen an Brandschutz und Statik macht solche Bestandsintegrationenn zur Herkulesaufgabe – umso bemerkenswerter ist deren konsequente Umsetzung.

Die 2.700 Quadratmeter große parkähnliche Oase im Inneren des Quartiers folgt einer typisch süddeutschen Tradition: der Schaffung halböffentlicher Rückzugsräume im verdichteten urbanen Kontext. Anders als in Berlin oder Hamburg, wo Blockrandbebauungen oft hermetisch abgeschlossen bleiben, öffnet sich THE VERSE bewusst zum Viertel. Die Passagen, die Herzog & de Meuron zwischen den Straßenzügen und den Innenhöfen spannen, erinnern an die historischen Durchgänge der Münchner Altstadt – neu interpretiert und klimatisch optimiert.

Die Dachlandschaft als urbanes Statement

Was sich in luftiger Höhe über dem Bahnhofsviertel entwickelt, könnte wegweisend für die bayerische Baukultur werden. Mit über 2.000 Quadratmetern nutzbarer Dachterrassenfläche entsteht eine der ambitioniertesten Dachlandschaften der Stadt. Laufbahnen, Fitnessflächen und sogar ein Padel-Court in 30 Metern Höhe – das klingt nach Silicon Valley, funktioniert aber auch im konservativen München. Die Stadtgestaltungskommission, sonst eher für ihre Skepsis gegenüber allzu progressiven Ideen bekannt, hat diese Vision abgesegnet.

Diese Entscheidung markiert einen Paradigmenwechsel in der münchnerischen Planungskultur. Während andere bayerische Städte noch über die Aktivierung ihrer Dachflächen diskutieren, schafft München Fakten. Die lokale Architektenkammer Bayern hat in den vergangenen Jahren intensiv für die Nutzung von Dachflächen als “fünfte Fassade” geworben – THE VERSE liefert nun ein Leuchtturmprojekt.

Lokale Akteure, internationale Standards

Die Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer Büro Herzog & de Meuron und den lokalen Projektentwicklern illustriert eine spezifisch süddeutsche Herangehensweise: Weltläufigkeit bei gleichzeitiger Verwurzelung. Markus Diegelmann von ACCUMULATA, ein Münchner Urgestein der Immobilienbranche, und sein Team kennen die Eigenarten des lokalen Marktes. Die Vermietungsstrategie durch Montibus Asset Management folgt einer Multi-Tenant-Logik, die auf die kleinteilige Unternehmensstruktur Münchens zugeschnitten ist – anders als in Frankfurt, wo Großbanken ganze Türme mieten.

Die Riedel Bau AG als ausführendes Bauunternehmen steht exemplarisch für die Leistungsfähigkeit bayerischer Mittelständler. Während andernorts internationale Generalunternehmer dominieren, setzt München auf regionale Expertise. Diese Firmen kennen die Tücken des Münchner Baugrunds, die spezifischen Anforderungen der örtlichen Bauaufsicht und die ungeschriebenen Regeln der lokalen Baukultur.

Das Bahnhofsviertel als Labor urbaner Transformation

Was sich rund um den Münchner Hauptbahnhof entwickelt, ist mehr als eine isolierte Quartiersentwicklung. THE VERSE wird zum Katalysator einer umfassenden Transformation, die das lange vernachlässigte Bahnhofsviertel zum Central Business District aufwertet. Diese Entwicklung folgt keinem Masterplan von oben, sondern einer typisch bayerischen Mischung aus privatwirtschaftlicher Initiative und kommunaler Steuerung.

Die Nähe zur geplanten zweiten S-Bahn-Stammstrecke macht das Quartier zum Mobilitätshub ersten Ranges. Die Münchner Verkehrsgesellschaft plant bereits die Optimierung der Tramlinien, die Landeshauptstadt München arbeitet an einem umfassenden Mobilitätskonzept für das Viertel. THE VERSE profitiert von diesen Planungen, trägt aber auch zur kritischen Masse bei, die solche Infrastrukturinvestitionen rechtfertigt.

Zwischen Leuchtturm und Lehrbeispiel

Stefan Schillinger von ACCUMULATA betont, hier entstehe “keine sterile Bürowelt, sondern ein lebendiges, gemischt genutztes Quartier”. Diese Aussage ist mehr als Marketing – sie spiegelt einen Paradigmenwechsel in der bayerischen Projektentwicklung. Während in den 1980er und 1990er Jahren monofunktionale Bürotürme das Ideal darstellten, fordert die moderne Stadtplanung Nutzungsmischung. Die Erdgeschosszone mit Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen folgt dieser Logik konsequent.

Die Reduzierung der Arkadentiefe entlang der Paul-Heyse-Straße zeigt, wie kleinteilige Optimierungen große Wirkung entfalten können. Solche Details mögen banal erscheinen, prägen aber die Aufenthaltsqualität entscheidend. Die Münchner Stadtgestaltungskommission, bekannt für ihre akribische Detailbetrachtung, hat diese Anpassungen explizit gewürdigt.

Fazit: Ein Modell mit Übertragungspotenzial

THE VERSE zeigt, wie moderne Quartiersentwicklung unter bayerischen Rahmenbedingungen funktionieren kann. Die Kombination aus internationalem Architekturniveau, lokaler Bauexpertise und sensibler Einbettung in den städtebaulichen Kontext macht das Projekt zum potentiellen Vorbild für andere bayerische Großstädte. Nürnberg, Augsburg oder Regensburg stehen vor ähnlichen Herausforderungen: Verdichtung bei Wahrung der Lebensqualität, Aktivierung brachliegender Innenstadtquartiere, Integration nachhaltiger Mobilitätskonzepte.

Die Fertigstellung 2027 wird zeigen, ob die hochgesteckten Erwartungen erfüllt werden. Bis dahin bleibt THE VERSE ein faszinierendes Realexperiment bayerischer Baukultur – mit all seinen Chancen und Risiken. Die Münchner Stadtgesellschaft beobachtet gespannt, ob Herzog & de Meurons Vision aufgeht: Ein Quartier zu schaffen, das nicht nur architektonisch überzeugt, sondern auch sozial funktioniert. In einer Stadt, die zwischen Laptop und Lederhose navigiert, keine leichte Aufgabe.