Baukunst - Fragen statt Antworten – was der Deutsche Pavillon in Venedig 2026 wirklich bedeutet
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Fragen statt Antworten – was der Deutsche Pavillon in Venedig 2026 wirklich bedeutet

25.10.2025
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Stuart Rupert

Neue Koordinaten für Deutschland

Die Ankündigung der Künstlerinnen Henrike Naumann und Sung Tieu für Deutschlands Pavillon auf der Kunstbiennale von Venedig 2026 markiert einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Unter der Kuratorschaft von Kathleen Reinhardt, der Direktorin des Georg-Kolbe-Museums in Berlin, wurde eine Positionierung gewählt, die bewusst von etablierten Narrativen abweicht. Diese beiden Künstlerinnen mit ostdeutscher beziehungsweise deutsch-vietnamesischer Biografie bringen Perspektiven mit, die die großen Themen der deutschen Kunstrepräsentation neu verhandeln – nicht triumphalistisch, sondern fragend, kritisch, persönlich.

Henrike Naumann: Die Archäologie der Ordnungssysteme

Die 1984 in Zwickau geborene Henrike Naumann arbeitet an einer visuellen Archäologie von Gesellschaften im Umbruch. Ihre Installationen aus gefundenen Möbeln und Designobjekten sind keine nostalgischen Interventionen – sie sind vielmehr Dissektionen der Mechanismen, durch die sich Gesellschaften selbst organisieren, disziplinieren und verwalten. Mit ihrem Werk Re-Education im New Yorker SculptureCenter setzte sie sich intensiv mit der Frage auseinander, wie westliche Konsumkultur in post-sozialistische Räume eindringt und wie diese Eindringlichkeit körperlich wird.

Naumanns Arbeitsweise offenbart etwas Essenzielles: Design und Politik sind untrennbar. Eine DDR-Schrankwand, eine amerikanische Couch der 1950er Jahre, ein Stuhl aus den 1980er Jahren – diese Objekte tragen die Lasten ihrer jeweiligen Gesellschaften. Die Künstlerin montiert sie zu Szenen, in denen politische Systeme aus ihrer ideologischen Abstraktheit heraustreten und als materielle Realität greifbar werden. Das ist keine Kunstgeschichte von oben, sondern eine Geschichte gelebter Räume, der persönlichen Erfahrung als historiografisches Instrument.

Für Venedig bringt Naumann ihre anhaltende Forschung zum Verhältnis von Kunst und Krieg mit – eine unmittelbare Reaktion auf die geopolitischen Spannungen, die Europa heute destabilisieren. Ihre Arbeitsweise fragt nach historischer Verantwortung, nach der Struktur kollektiver Handlungsmacht, nach den Kontinuitäten und Brüchen, die Gesellschaften durchziehen.

Sung Tieu: Geopolitik als persönliche Geographie

Sung Tieu, 1987 in Hai Duong, Vietnam, geboren, kam im Alter von fünf Jahren nach Berlin – nicht als Touristin, nicht als Migrantin mit klarem Status, sondern als Kind einer Familie, die im rechtlichen Graubereich existierte. Dieser biografische Ausgangspunkt durchzieht ihre gesamte künstlerische Praxis und macht sie zu einer Künstlerin, deren Werk die großen historischen Ereignisse durch die Linse persönlicher, körperlicher Existenz bricht.

Tieus künstlerische Recherche konzentriert sich auf die rund 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die ab 1980 in die DDR kamen – ein Kapitel deutsch-vietnamesischer Geschichte, das in Deutschland lange marginalisiert oder ignoriert wurde. Sie arbeitet mit Archivmaterialien, Verwaltungsdokumenten, Skulpturen aus Ziegelsteinen, Sound-Installationen. Diese heterogenen Materialien verdichten sich zu räumlichen Erfahrungen, die die Strukturen von Kontrolle, Segregation und bürokratischer Gewalt sichtbar machen.

Der ehemalige Wohnkomplex Gehrenseestraße in Berlin-Lichtenberg, wo Tieu selbst aufwuchs, wird zur Ikone ihrer Recherche – eine Plattenbausiedlung für ausländische Arbeitskräfte, inzwischen dem Abriss geweiht. Ihre Werke bewahren die Erinnerung an einen Ort und an Menschen, deren Arbeit für die DDR-Wirtschaft unverzichtbar war, deren Existenzen aber danach weitgehend vergessen wurden.

Venedig 2026: Umschreibung einer Verantwortung

Die Entscheidung für Naumann und Tieu ist eine bewusste Absage an klassische Repräsentationslogiken. Der Deutsche Pavillon wird nicht als Bühne für ästhetische Exzellenz oder kulturelle Überlegenheit inszeniert. Stattdessen wird er zum Ort kritischer Selbstreflexion, einer Auseinandersetzung mit den großen Themen, die Deutschland in einem komplett anderen Koordinatensystem verorten, wie Kuratorin Kathleen Reinhardt formuliert.

Diese Position ist radikal. Sie positioniert eine junge Generation, beide Künstlerinnen zwischen Ost und West, zwischen Heimat und Entwurzelung, zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Beiden ist gemeinsam, dass sie die großen Kollektiverzählungen nicht akzeptieren, sondern an den Materialien und Räumen, in denen Geschichte sedimentiert, auseinandernehmen, was die offizielle Geschichte überlagert oder verdrängt hat.

Für eine Generation, die in europäischen Spannungen aufwächst, die die Klimakrise erleben wird, die Migration nicht mehr als exotisches Phänomen, sondern als strukturelle Realität erfährt – bieten diese Künstlerinnen nicht Lösungen, sondern Fragen. Und das ist das Richtige. Denn es ist die Fähigkeit zu fragen, die Kunst von Propaganda unterscheidet.

Nachhaltige Positionen, nachhaltige Kunstforschung

Was bedeutet Nachhaltigkeit im Kontext internationaler Kunstausstellungen? Geht es nur um die CO₂-Bilanz des Transports von Kunstwerken nach Venedig? Oder geht es um die Nachhaltigkeit von Narrativen – darum, dass die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, nicht immer wieder dieselben Machtverhältnisse reproduzieren?

Beide Künstlerinnen arbeiten mit Material des Alltags, mit Recycling, mit Archivrecherche – Praktiken, die dem Imperativ der Nachhaltigkeit entsprechen. Aber wichtiger noch: Sie machen sichtbar, was unter der Oberfläche glatter historischer Narrative liegt. Sie schaffen Räume, in denen marginalisierte Geschichten wieder atmen können. Das ist eine Form der Nachhaltigkeit, die nicht auf Ökobilanz reduzierbar ist.

Ein kritischer Ausblick

Nichtsdestotrotz stellen sich Fragen. Wird der Deutsche Pavillon in Venedig dieser kritischen Energie standhalten können, oder wird sie – wie so oft – in die Maschine des Kunstmarkts und der Kulturrepräsentation eingezogen? Die Biennale von Venedig ist ein Riesenapparat, und zwei kritische künstlerische Positionen sind nicht vor der Absorptionskraft dieses Apparates gefeit.

Doch vielleicht ist das auch nicht das Entscheidende. Henrike Naumann und Sung Tieu haben bereits bewiesen, dass sie ihre künstlerische Integrität bewahren können – in New York, in Berlin, auf allen Biennalen, bei denen ihre Arbeiten präsent waren. Sie werden Venedig nicht domestizieren lassen. Sie werden weiterhin fragen, auch wenn die Biennale nach Antworten sucht.

Fazit: Perspektive statt Positur

Die Wahl von Naumann und Tieu ist ein Signal. Ein Signal dafür, dass Deutschland bereit ist, sich selbst nicht mehr als Zentrum, sondern als Teil einer komplexeren, globaleren Geschichte zu verstehen. Ein Signal dafür, dass kunsthistorische Repräsentation nicht wieder Macht reproduzieren muss, sondern Machtverhältnisse hinterfragen kann. Auf der Kunstbiennale 2026 in Venedig wird der Deutsche Pavillon nicht triumphieren – er wird denken. Und das ist, was wir brauchen.

Veranstaltung Details
Ort Venedig, Italien – Deutscher Pavillon
Zeitraum 9. Mai bis 22. November 2026
Editionsnummer 61. Kunstbiennale von Venedig
Kuratierung Kathleen Reinhardt (Georg-Kolbe-Museum, Berlin)
Trägerschaft Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa)