
Ein Rekordwechsel, der Geschichte schreibt
Einhundertfünfunddreißig Jahre lang thronte das Ulmer Münster mit seinen 161,53 Metern als der höchste Kirchturm der Welt. Ein Rekord, der sich auch in der Identität Württembergs verfestigte, eine steile Vertikale als Ausdruck von Kontinuität und Verlässlichkeit. Im Oktober 2025 wurde diese Dominanz bescheiden durch ein anderes Bauwerk abgelöst: In Barcelona hat die Sagrada Familia des Architekten Antoni Gaudi einen neuen Maßstab gesetzt. Mit der Anbringung des unteren Kreuzarmssegments erreicht der zentrale Turm bereits eine Höhe von 162,91 Metern. Wenn 2026 der Turm Jesu Christi seine endgültige Höhe von 172,50 Metern erreicht, wird die katalanische Basilika nicht einfach nur eine Dimension überragen, sondern eine ganze Ära von Sakralarchitektur ablösen.
Doch dieser Wechsel des Höhenrekords erzählt weniger von technischer Überlegenheit als vielmehr von zwei grundlegend unterschiedlichen Visionen architektonischen Gestaltens. Während das Ulmer Münster, 1890 vollendet, die Perfektion der Spätgotik verkörpert, folgt die Sagrada Familia einer anderen Logik: Sie ist nicht Abschluss, sondern Prozess. Nicht Vollendung eines Gedankens, sondern endlose Weiterentwicklung.
Gaudis Formensprache: Natur als architektonischer Kompass
Was die Sagrada Familia auszeichnet, ist nicht primär ihre Höhe, sondern die Philosophie, die hinter ihrer Gestaltung steht. Als Gaudi 1883 den Bau übernahm, verwarf er radikal die neugotische Planung seines Vorgängers. Stattdessen schuf er ein monumentales Ensemble, das sich organischen Formen anvertraut, wie sie in der Natur zu finden sind. Die achtzehn Türme erinnern nicht an konstruierte Geometrie, sondern an Stalaktiten, an Tropfsteine, die Jahrtausende benötigten, um ihre Form anzunehmen.
Im Inneren wird diese Philosophie noch deutlicher. Die Säulen ähneln Baumstämmen, die sich zum Licht strecken. Die Gewölbe entstehen aus mathematisch präzisen Regelflächen, hyperbolischen Paraboloiden und Rotationshyperboloiden. Das klingt nach abstrakter Mathematik, ist aber tatsächlich Gaudis Versuch, die Natur in ihrer reinsten geometrischen Form zu verstehen. Schon bei seinen Studien zur Kirche der Colonia Güell hatte Gaudi erkannt, dass diese zweiseitig gekrümmten Flächen ohne zusätzliche Stützkonstruktionen auskommen, dass sie sich selbst tragen. Eine strukturelle Innovation, die erst moderne 3D-Simulationen vollständig nachvollziehen konnten.
Besonders bemerkenswert ist Gaudis experimentelle Methode. Er beugte nicht komplexe Theorien der Praxis, sondern schuf das berühmte invertierte Modell aus Schnüren und Sandsäcken: Er hängte seine Konstruktion kopfüber auf, um zu verstehen, wie Gewichte sich verteilen, wie Drucklinien verlaufen. Was heute Finite-Element-Analyse heißt, war damals akribische Handarbeit im Dienste der Logik. Dieser methodische Radikalismus macht Gaudi zum Vordenker einer Architektur, die Science und Poetry verbindet.
Die ästhetik der Unvollendung
Doch hier tritt eine philosophische Paradoxie auf. Gaudi starb 1926, nach vierzig Jahren Arbeit. Er sah von seinem Werk nur einen Bruchteil vollendet: eine Fassade, die Krypta, einen einzelnen Turm. Der Spanische Bürgerkrieg zerstörte dann seine Werkstatt, seine Pläne, seine Modelle. Nur Gaudis detaillierte Notizen retteten die Vision vor dem völligen Vergessen.
Das wirft eine provokative Frage auf: Ist die Sagrada Familia tatsächlich ein Gaudí-Werk? Oder ist sie der kollektive Traum einer Stadt, die ein Vermächtnis weiterträgt? Neun verschiedene Chefarchitekten haben seit Gaudi das Projekt geleitet. Die gegenwärtige Leitung unter Jordi Fauli arbeit mit modernen Drohnen, 3D-Modellen und parametrischer Planung. Steinmetze führen immer noch von Hand aus, was die Maschinen vorbereiten. Dies ist keine ungebrochene Kontinuität, sondern eine eigenständige schöpferische Interpretation eines unvollendeten Gedankens.
Die Unvollendung ist dabei kein Manko, sondern eine produktive Bedingung. Während das Ulmer Münster als geschlossenes System funktioniert, bleibt die Sagrada Familia offen für die Gegenwart. Die monumentale Gloriafassade, die noch bis 2034 errichtet wird, muss mit modernen Mitteln gelöst werden. Die städtebaulichen Herausforderungen, die Gaudis massive Treppen mit sich brachten, erfordern neue Antworten. Jede Generation von Baumeistern bringt ihre Zeit in das Werk ein.
Materialiät und Rationalität: Das deutsche Bauteil
Ein Detail verdient besondere Aufmerksamkeit: Das Kreuzarmssegment, das den neuen Rekord möglich machte, wurde in Bayern gefertigt. Der untere Arm misst 7,25 Meter, wiegt 24 Tonnen. Aus weiss glasierter Keramik und Glas. Das ist nicht Romantik, sondern rationale Ingenieurskunst.
Damit verbindet sich eine faszinierende Geschichte deutsch-katalanischer handwerklicher Zusammenarbeit. Die Bayern produzieren die Präzision, Barcelona liefert die Vision. Das Bauteil war seit Juli auf einer 54 Meter hohen Plattform positioniert, wohl vorbereitet, wartend auf seinen Moment. Als das erste Kreuzsegment im Oktober montiert wurde, war es nicht ein dramatischer Moment der Schöpfung, sondern die ruhige Durchführung eines perfekt geplanten Plans.
Das Kreuz selbst wird nach Fertigstellung 17 Meter hoch sein, 13,5 Meter breit. Ein Objekt von der Größe eines fünfstöckigen Gebäudes. Seine äussere Hülle aus Keramik und Glas wird extremen Wetterbedingungen standhalten und Licht reflektieren. Das ist Materialästhetik als Strategie: Durabilität und Schönheit sind keine Gegensätze, sondern Synonyme.
Das Gespenst der Fertigstellung
Hier tritt ein zweites paradoxes Moment auf. Das ursprüngliche Ziel war die Fertigstellung bis 2026, zum hundertsten Todestag Gaudis am 10. Juni. Ein symbolisches Datum, wunderschön in seiner Semetrie. Doch die COVID-19-Pandemie verlängerte die Bauunterbrechnungen um 114 Tage, forderte 81 Millionen Euro Schäden 2021. Nunmehr wird erwartet, dass die vollständige Fertigstellung erst 2033 oder 2035 erfolgt. Die Gloriafassade, Gaudis radikalste Schöpfung, wird sich bis in die 2030er Jahre dehnen.
Was bedeutet dies? Ein Jahrhundert des Wartens könnte sich zu anderthalb Jahrhunderten verlängern. Die Generationen, die den Baubeginn 1882 erlebten, sind längst verstorben. Gaudis direkter Schülerkreis ist Vergangenheit. Heute arbeiten Architekten, Ingenieure und Steinmetze an einem Werk, dessen Vollendung sie nicht sehen werden. Die Finanzierung erfolgt durch Spenden und Ticketverkäufe, ein fragiles Modell, abhängig von Tourismus, Wirtschaftskrise, unerwarteten Unterbrechungen.
Diese Unsicherheit ist nicht romantisch, sondern strukturell. Sie reflektiert die Vulnerabilität architektonischer Großprojekte in einer sich rapid verändernden Welt. Die Sagrada Familia ist ein architektonisches Großwerk, aber auch ein Testfall: Kann Architektur die Zeit überdauern? Kann eine künstlerische Vision über mehr als ein Jahrhundert hinweg kohärent bleiben, wenn unterschiedliche Interpretationen sie formen?
Nachhaltigkeit und kollektive Dimension
Interessanterweise zeigt Gaudis früher Einsatz von recycelten Materialien, insbesondere von Keramikabfällen, ein frühes Bewusstsein für ökologische Verantwortung. Das ist nicht die Performance-Nachhaltigkeit zeitgenössischer Starchitekten, sondern pragmatisches Handeln aus ökonomischem Zwang, dem sich kunstvolle Lösungen verdankten.
Doch es gibt noch eine andere Dimension: Die Sagrada Familia wird durch kollektive Mittel finanziert und erbaut. Keine Monarchie, keine Großindustrie, sondern Gläubige, Spender, Touristen. Ein anonymes Netzwerk von Individualinteressen, das sich zu einem gemeinsamen Werk zusammenfügt. Dies ist eine fast utopische Dimension urbaner Produktion, die zeitgenössische Architekturdebatten über Partizipation und Gemeinschaft vorwegnimmt.
Die drei Millionen Besucher jährlich (vor Pandemie) sind nicht passive Betrachter, sondern Finanziers einer laufenden Utopie. Sie zahlen, um zu sehen, wie eine Vision sich langsam manifestiert. Sie werden zu Akteuren einer Baugeschichte, die ihre Lebenszeit überschreitet.
Fazit: Das Ende der Rekorde
Die Enthronung des Ulmer Münsters ist also nicht ein Sieg der Höhe über die Höhe, sondern ein Paradigmenwechsel. Das Ulmer Münster ist architektonische Antwort auf eine Frage: Wie baut man schön und dauerhaft? Die Sagrada Familia stellt eine andere Frage: Wie kann Architektur lebendig bleiben, sich entwickeln, ihre Zeit reflektieren, während sie doch einem hundert Jahre alten Gedanken treu bleibt?
2026 wird ein Meilenstein erreicht, aber nicht die Vollendung. Der zentrale Christusturm wird stehen, 172,50 Meter hoch, ein neuer Rekord. Doch die Basilika wird noch immer eine Baustelle sein, noch immer eine Verheissung mehr als eine Erfüllung. Und vielleicht ist genau das ihre grösste architektonische Leistung: nicht die Vollendung eines Gedankens, sondern die Kunst, einen Gedanken so auszuarbeiten, dass er Generation um Generation Architekten, Handwerker und Besucher fesselt.
Das Ulmer Münster ist vollendet. Die Sagrada Familia ist gerade erst dabei, wirklich zu werden. Das ist kein Sieg, sondern ein anderer Weg zur Ewigkeit.

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